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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Zahl der unentdeckt gebliebenen gemeinen Verbrechen stieg ebenso rasch wie die
der politischen, und dem Treiben der Nihilisten gegenüber bekundete die Polizei
eine noch nie dagewesene Hilflosigkeit. In den letzten Tagen von Timascheffs
Verwaltung brach ein neues Unglück herein, im Gouvernement Astrachan be¬
gann die Pest zu wüthen, die dem Minister viel Verlegenheit bereitete und ihm
von Seiten der Liberalen allerlei Spott und Verdächtigung der von ihm gegen
die Seuche ergriffenen Maßregeln und der von ihm über sie mitgetheilten Nach¬
richten zuzog. Im Herbst 1878 verschwand er sang- und klanglos von der
politischen Bühne, und sein zweiter Adjunkt, der Geheimrath Malo ff, über¬
nahm seinen Posten. Er machte keinen Anspruch auf Geist. Der Mann,
welcher die innere Verwaltung des von einem schweren Kriege erschöpften, von
Unzufriedenheit und Mißtrauen erfüllten und von einem vielleicht künstlich er¬
zeugten, darum aber nicht ungefährlichen Revolutionsfieber geschüttelten russi¬
schen Reiches übernehmen sollte, hatte erst vor wenigen Jahren den Sattel eines
Offiziers bei den Garde-Ulanen verlassen, um ins Ministerium des Innern
überzusiedeln, und begann ohne Kenntniß von der Thätigkeit und dem Mecha¬
nismus der Kreis- und Provinzialbehörden an der Zentralstelle zu regieren,
als die Katastrophe vom 14. April 1879 eintrat. Den Schüssen des Meuchel¬
mörders folgte ein Ausnahmezustand, der den Minister des Innern um den
wichtigsten Theil seiner Befugnisse brachte und bis auf weiteres zur Rolle
eines bloßen Zuschauers nöthigte, indem eine Verordnung erlassen wurde,
welche fast das ganze europäische Rußland sechs interimistischen Militär-Gene¬
ralgouverneuren unterstellte und diesen die Vollmacht ertheilte, die Thätigkeit
aller regelmäßigen Polizei-, Verwaltungs- und Gerichtsbehörden zu suspendiren
und einen Belagerungszustand im ausgedehntesten Sinne des Wortes zu
verhängen.

Wie Makoff war auch der dritte im Laufe des Jahres 1878 ernannte
Minister, der Chef des Departements der Justiz, Nabokoff, durch jenen Aus¬
nahmezustand so vollständig in den Hintergrund gedrängt worden, als ob dem
Publikum praktisch klar gemacht werden sollte, man könne im heutigen Rußland
recht wohl auch ohne Justizminister auskommen. Sein Vorgänger Graf von
der Pahlen war in Folge des Ausganges des Prozesses der Wera Sassu-
litsch gefallen. Optimist wie alle "liberalen" Staatsmänner, hatte er sich dem
Kaiser gegenüber für eine Verurtheilung der Mörderin durch die Geschworenen
verbürgt und so bewirkt, daß sie nicht als politische Verbrecherin behandelt
wurde. Das hierdurch angerichtete Unheil bewog ihn, um seinen Abschied zu
bitten. Er hatte sich nicht ganz erfolglos bemüht, einen unabhängigen und
unbestechlichen Richterstand zu bilden, aber den Fehler begangen, sich dabei
vornehmlich an die junge, von leidenschaftlichem Oppositionsgeist erfüllte Gene-


Zahl der unentdeckt gebliebenen gemeinen Verbrechen stieg ebenso rasch wie die
der politischen, und dem Treiben der Nihilisten gegenüber bekundete die Polizei
eine noch nie dagewesene Hilflosigkeit. In den letzten Tagen von Timascheffs
Verwaltung brach ein neues Unglück herein, im Gouvernement Astrachan be¬
gann die Pest zu wüthen, die dem Minister viel Verlegenheit bereitete und ihm
von Seiten der Liberalen allerlei Spott und Verdächtigung der von ihm gegen
die Seuche ergriffenen Maßregeln und der von ihm über sie mitgetheilten Nach¬
richten zuzog. Im Herbst 1878 verschwand er sang- und klanglos von der
politischen Bühne, und sein zweiter Adjunkt, der Geheimrath Malo ff, über¬
nahm seinen Posten. Er machte keinen Anspruch auf Geist. Der Mann,
welcher die innere Verwaltung des von einem schweren Kriege erschöpften, von
Unzufriedenheit und Mißtrauen erfüllten und von einem vielleicht künstlich er¬
zeugten, darum aber nicht ungefährlichen Revolutionsfieber geschüttelten russi¬
schen Reiches übernehmen sollte, hatte erst vor wenigen Jahren den Sattel eines
Offiziers bei den Garde-Ulanen verlassen, um ins Ministerium des Innern
überzusiedeln, und begann ohne Kenntniß von der Thätigkeit und dem Mecha¬
nismus der Kreis- und Provinzialbehörden an der Zentralstelle zu regieren,
als die Katastrophe vom 14. April 1879 eintrat. Den Schüssen des Meuchel¬
mörders folgte ein Ausnahmezustand, der den Minister des Innern um den
wichtigsten Theil seiner Befugnisse brachte und bis auf weiteres zur Rolle
eines bloßen Zuschauers nöthigte, indem eine Verordnung erlassen wurde,
welche fast das ganze europäische Rußland sechs interimistischen Militär-Gene¬
ralgouverneuren unterstellte und diesen die Vollmacht ertheilte, die Thätigkeit
aller regelmäßigen Polizei-, Verwaltungs- und Gerichtsbehörden zu suspendiren
und einen Belagerungszustand im ausgedehntesten Sinne des Wortes zu
verhängen.

Wie Makoff war auch der dritte im Laufe des Jahres 1878 ernannte
Minister, der Chef des Departements der Justiz, Nabokoff, durch jenen Aus¬
nahmezustand so vollständig in den Hintergrund gedrängt worden, als ob dem
Publikum praktisch klar gemacht werden sollte, man könne im heutigen Rußland
recht wohl auch ohne Justizminister auskommen. Sein Vorgänger Graf von
der Pahlen war in Folge des Ausganges des Prozesses der Wera Sassu-
litsch gefallen. Optimist wie alle „liberalen" Staatsmänner, hatte er sich dem
Kaiser gegenüber für eine Verurtheilung der Mörderin durch die Geschworenen
verbürgt und so bewirkt, daß sie nicht als politische Verbrecherin behandelt
wurde. Das hierdurch angerichtete Unheil bewog ihn, um seinen Abschied zu
bitten. Er hatte sich nicht ganz erfolglos bemüht, einen unabhängigen und
unbestechlichen Richterstand zu bilden, aber den Fehler begangen, sich dabei
vornehmlich an die junge, von leidenschaftlichem Oppositionsgeist erfüllte Gene-


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[0311] Zahl der unentdeckt gebliebenen gemeinen Verbrechen stieg ebenso rasch wie die der politischen, und dem Treiben der Nihilisten gegenüber bekundete die Polizei eine noch nie dagewesene Hilflosigkeit. In den letzten Tagen von Timascheffs Verwaltung brach ein neues Unglück herein, im Gouvernement Astrachan be¬ gann die Pest zu wüthen, die dem Minister viel Verlegenheit bereitete und ihm von Seiten der Liberalen allerlei Spott und Verdächtigung der von ihm gegen die Seuche ergriffenen Maßregeln und der von ihm über sie mitgetheilten Nach¬ richten zuzog. Im Herbst 1878 verschwand er sang- und klanglos von der politischen Bühne, und sein zweiter Adjunkt, der Geheimrath Malo ff, über¬ nahm seinen Posten. Er machte keinen Anspruch auf Geist. Der Mann, welcher die innere Verwaltung des von einem schweren Kriege erschöpften, von Unzufriedenheit und Mißtrauen erfüllten und von einem vielleicht künstlich er¬ zeugten, darum aber nicht ungefährlichen Revolutionsfieber geschüttelten russi¬ schen Reiches übernehmen sollte, hatte erst vor wenigen Jahren den Sattel eines Offiziers bei den Garde-Ulanen verlassen, um ins Ministerium des Innern überzusiedeln, und begann ohne Kenntniß von der Thätigkeit und dem Mecha¬ nismus der Kreis- und Provinzialbehörden an der Zentralstelle zu regieren, als die Katastrophe vom 14. April 1879 eintrat. Den Schüssen des Meuchel¬ mörders folgte ein Ausnahmezustand, der den Minister des Innern um den wichtigsten Theil seiner Befugnisse brachte und bis auf weiteres zur Rolle eines bloßen Zuschauers nöthigte, indem eine Verordnung erlassen wurde, welche fast das ganze europäische Rußland sechs interimistischen Militär-Gene¬ ralgouverneuren unterstellte und diesen die Vollmacht ertheilte, die Thätigkeit aller regelmäßigen Polizei-, Verwaltungs- und Gerichtsbehörden zu suspendiren und einen Belagerungszustand im ausgedehntesten Sinne des Wortes zu verhängen. Wie Makoff war auch der dritte im Laufe des Jahres 1878 ernannte Minister, der Chef des Departements der Justiz, Nabokoff, durch jenen Aus¬ nahmezustand so vollständig in den Hintergrund gedrängt worden, als ob dem Publikum praktisch klar gemacht werden sollte, man könne im heutigen Rußland recht wohl auch ohne Justizminister auskommen. Sein Vorgänger Graf von der Pahlen war in Folge des Ausganges des Prozesses der Wera Sassu- litsch gefallen. Optimist wie alle „liberalen" Staatsmänner, hatte er sich dem Kaiser gegenüber für eine Verurtheilung der Mörderin durch die Geschworenen verbürgt und so bewirkt, daß sie nicht als politische Verbrecherin behandelt wurde. Das hierdurch angerichtete Unheil bewog ihn, um seinen Abschied zu bitten. Er hatte sich nicht ganz erfolglos bemüht, einen unabhängigen und unbestechlichen Richterstand zu bilden, aber den Fehler begangen, sich dabei vornehmlich an die junge, von leidenschaftlichem Oppositionsgeist erfüllte Gene-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/311>, abgerufen am 23.07.2024.