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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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immer noch schmeichelte, daß es nur entschlossener Zus ammenfassung ihrer Kräfte
bedurft hätte, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der Boden, auf dem
das Regime der Jahre 1863 bis 1877 gestanden, war durch den jüngsten Krieg
gerade so unterminirt worden wie der des alten Rußland durch den Krimkrieg.

In dieser Zeit der Schwierigkeiten und der Erschütterung aller Autori¬
täten, selbst der höchsten, sind vier der wichtigsten Verwaltungszweige Rußlands
in die Hände neuer Minister gelegt worden, und nichts bezeichnet die gegen¬
wärtige Lage deutlicher als die Personen, auf welche dabei die Wahl fiel.

Unmittelbar nach Abschluß des Friedens legte Herr v. Reutern das sechzehn
Jahre hindurch von ihm verwaltete Amt des Finanzmimsters nieder, weil er
die Arbeit seines an die Balancirung des Budgets gewendeten Lebens, die
zuletzt solide Erfolge gehabt hatte, durch den Krieg hoffnungslos vernichtet
sah. Sein Nachfolger war sein ehemaliger Adjunkt, General Greigh, der
früher in der Chevaliergarde, dann im Marineministerium gedient hatte und
zuletzt zur Finanzverwaltung übergegangen war. Derselbe galt für persönlich
ehrenhaft und war wegen seiner eleganten und liebenswürdigen Manieren in
der vornehmen Welt allgemein beliebt. Seine Fähigkeiten hätten zur Verwal¬
tung der russischen Finanzen in gewöhnlichen Zeiten ausgereicht; der schwierigen
Aufgabe aber, die ihm sein Vorgänger hinterlassen, war er nicht gewachsen.
Um dem tiefgesunkenen Kredit des Staates aufzuhelfen, ließ er für das Jahr
1879 einen Budgetvoranschlag ausarbeiten, der einen Ueberschuß von einer
Drittelmillion Rubeln nachweisen sollte, aber weder das Publikum noch die
Börse über die wahre Lage der Dinge zu täuschen vermochte. Sehr bald
rechnete man nämlich dem Minister nach, daß sein Ueberschuß nur dadurch
herausgekommen war, daß man gegen alle Gewohnheit die neu eingeführten
Steuern und Steuerzuschläge in den Voranschlag mit aufgenommen und ihre
muthmaßlichen Erträge als bereits gesicherte Einnahmen behandelt hatte, wäh¬
rend sie höchstens hinreichen konnten, die Verminderung der früheren Steuer¬
erträge auszugleichen. Weiter wurde dargethan, daß Herr Greigh bei der
Abschätzung des Ertrags der neuen Abgaben von Stempelmarken, Eisenbahn¬
verkehr und Spirituosenverkauf von durchaus falschen Voraussetzungen ausge¬
gangen war. Endlich zeigte sich, daß die Voranschläge für außerordentliche
Ausgaben viel zu niedrig gegriffen waren. Auch mit seinen Versuchen, den
russischen Finanzen durch Einführung neuer rationeller Steuern und Vermin¬
derung der Ausgaben in Zukunft abzuhelfen, hatte der Finanzminister wenig
Glück. Sein Projekt einer klassifizirten Einkommensteuer machte vollständig
Fiasko, und eine beträchtliche Verminderung der Ausgaben war nur auf Kosten
der regierenden Klasse möglich, die sich den Brodkorb mit ihren ungeheueren
Gehalten und Pensionen nicht höher hängen läßt und von dem liebenswürdigen,


Greiizbote" IV. 1L7S. 40

immer noch schmeichelte, daß es nur entschlossener Zus ammenfassung ihrer Kräfte
bedurft hätte, um die Welt aus den Angeln zu heben. Der Boden, auf dem
das Regime der Jahre 1863 bis 1877 gestanden, war durch den jüngsten Krieg
gerade so unterminirt worden wie der des alten Rußland durch den Krimkrieg.

In dieser Zeit der Schwierigkeiten und der Erschütterung aller Autori¬
täten, selbst der höchsten, sind vier der wichtigsten Verwaltungszweige Rußlands
in die Hände neuer Minister gelegt worden, und nichts bezeichnet die gegen¬
wärtige Lage deutlicher als die Personen, auf welche dabei die Wahl fiel.

Unmittelbar nach Abschluß des Friedens legte Herr v. Reutern das sechzehn
Jahre hindurch von ihm verwaltete Amt des Finanzmimsters nieder, weil er
die Arbeit seines an die Balancirung des Budgets gewendeten Lebens, die
zuletzt solide Erfolge gehabt hatte, durch den Krieg hoffnungslos vernichtet
sah. Sein Nachfolger war sein ehemaliger Adjunkt, General Greigh, der
früher in der Chevaliergarde, dann im Marineministerium gedient hatte und
zuletzt zur Finanzverwaltung übergegangen war. Derselbe galt für persönlich
ehrenhaft und war wegen seiner eleganten und liebenswürdigen Manieren in
der vornehmen Welt allgemein beliebt. Seine Fähigkeiten hätten zur Verwal¬
tung der russischen Finanzen in gewöhnlichen Zeiten ausgereicht; der schwierigen
Aufgabe aber, die ihm sein Vorgänger hinterlassen, war er nicht gewachsen.
Um dem tiefgesunkenen Kredit des Staates aufzuhelfen, ließ er für das Jahr
1879 einen Budgetvoranschlag ausarbeiten, der einen Ueberschuß von einer
Drittelmillion Rubeln nachweisen sollte, aber weder das Publikum noch die
Börse über die wahre Lage der Dinge zu täuschen vermochte. Sehr bald
rechnete man nämlich dem Minister nach, daß sein Ueberschuß nur dadurch
herausgekommen war, daß man gegen alle Gewohnheit die neu eingeführten
Steuern und Steuerzuschläge in den Voranschlag mit aufgenommen und ihre
muthmaßlichen Erträge als bereits gesicherte Einnahmen behandelt hatte, wäh¬
rend sie höchstens hinreichen konnten, die Verminderung der früheren Steuer¬
erträge auszugleichen. Weiter wurde dargethan, daß Herr Greigh bei der
Abschätzung des Ertrags der neuen Abgaben von Stempelmarken, Eisenbahn¬
verkehr und Spirituosenverkauf von durchaus falschen Voraussetzungen ausge¬
gangen war. Endlich zeigte sich, daß die Voranschläge für außerordentliche
Ausgaben viel zu niedrig gegriffen waren. Auch mit seinen Versuchen, den
russischen Finanzen durch Einführung neuer rationeller Steuern und Vermin¬
derung der Ausgaben in Zukunft abzuhelfen, hatte der Finanzminister wenig
Glück. Sein Projekt einer klassifizirten Einkommensteuer machte vollständig
Fiasko, und eine beträchtliche Verminderung der Ausgaben war nur auf Kosten
der regierenden Klasse möglich, die sich den Brodkorb mit ihren ungeheueren
Gehalten und Pensionen nicht höher hängen läßt und von dem liebenswürdigen,


Greiizbote» IV. 1L7S. 40
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/309>, abgerufen am 23.07.2024.