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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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lichkeiten verschiedener Völker lassen sich auch die Gegensätze und Unterschiede
innerhalb einer und derselben Nation ohne große Gewaltsamkeiten und Härten
beseitigen, und jede verständige Gesetzgebung wird auf diese tief im Volksbe¬
wußtsein begründeten Gegensätze Rücksicht nehmen müssen. Die großen liberalen
Ideen der Neuzeit, denen unser Volk ja vieles Große und Treffliche verdankt,
haben in dieser Beziehung entschieden manchen Fehler begangen. Hingerissen von
dem Gedanken einer allgemeinen Humanität, haben sie zu wenig berücksichtigt,
daß die wahre Humanität des Volkes Sitte und Gewohnheit, die Natur des
Landes und Volkes beachten muß. Die an sich gewiß berechtigten demokrati¬
schen Ideen, die eine völlige Umgestaltung unseres politischen Lebens hervor¬
gerufen und den Gedanken politischer Gleichberechtigung aller Menschen zum
Durchbruch gebracht haben, haben doch die sozialen Elemente des Volkslebens
oft zu sehr in den Hintergrund treten lassen. So haben viele demokratische
Politiker, erfüllt von dem Wunsche der Gleichberechtigung aller Glieder unserer
Nation, einen Gegensatz, der in unserm Volksleben tief begründet ist, völlig
aufheben und verwischen zu können gemeint, den Gegensatz zwischen ländlichem
und städtischem Leben. Und doch ist es gerade dieser Gegensatz zwischen dem
stets fluktuirenden und vorwürtstreibenden Leben der Stadt und dem mehr
stagnirenden, konservativen, oft zurücktreibenden Leben des Landes, welcher die
Geschichte unseres Volkes zum großen Theile bedingt hat. Es ist sehr be¬
merkenswerth, daß alle großen politischen und geistigen Reformen und Revo¬
lutionen, mit alleiniger Ausnahme der Bauernkriege des 16. Jahrhunderts,
ihren Ursprung und Fortgang in den Städten genommen haben, von den
großen städtisch-republikanischen Bewegungen im 13. und 14. Jahrhundert und
den sozialen Bewegungen der Zünfte in eben jener Zeit an bis auf die krampf¬
haften Wallungen des Volkslebens im Jahre 1848 und die sozialistischen Be¬
wegungen der jüngsten Vergangenheit. Da liegt es denn nahe, statt mit bloßen
Theorien an diese Thatsache heranzutreten, die Entwickelung jenes Gegensatzes
in seinen einzelnen Phasen einmal zu verfolgen und den Versuch zu machen,
den Einfluß der Städte auf das wirthschaftliche, geistige und politische Leben
unseres Volkes aus seiner Genesis zu begreifen.

Die totale Umwälzung der wirthschaftlichen Verhältnisse, welche das deut¬
sche Volk, wie jedes andere, in seinem Mittelalter durchgemacht hat, spricht
sich am besten darin aus, daß in der neueren Zeit die Städte die Brennpunkte
des geistigen, politischen und wirthschaftlichen Lebens geworden sind, während
unsere Altvordern nach dem gewichtigen Zeugniß des Tacitus zu der Zeit, wo
sie mit der Römerwelt in feindlichen Kontakt kamen, einen unüberwindlichen
Widerwillen gegen jeden von Mauern eingeschlossenen Platz hatten. Der Be¬
ginn der Veränderung fällt mit der Einführung des Christenthums zusammen,


lichkeiten verschiedener Völker lassen sich auch die Gegensätze und Unterschiede
innerhalb einer und derselben Nation ohne große Gewaltsamkeiten und Härten
beseitigen, und jede verständige Gesetzgebung wird auf diese tief im Volksbe¬
wußtsein begründeten Gegensätze Rücksicht nehmen müssen. Die großen liberalen
Ideen der Neuzeit, denen unser Volk ja vieles Große und Treffliche verdankt,
haben in dieser Beziehung entschieden manchen Fehler begangen. Hingerissen von
dem Gedanken einer allgemeinen Humanität, haben sie zu wenig berücksichtigt,
daß die wahre Humanität des Volkes Sitte und Gewohnheit, die Natur des
Landes und Volkes beachten muß. Die an sich gewiß berechtigten demokrati¬
schen Ideen, die eine völlige Umgestaltung unseres politischen Lebens hervor¬
gerufen und den Gedanken politischer Gleichberechtigung aller Menschen zum
Durchbruch gebracht haben, haben doch die sozialen Elemente des Volkslebens
oft zu sehr in den Hintergrund treten lassen. So haben viele demokratische
Politiker, erfüllt von dem Wunsche der Gleichberechtigung aller Glieder unserer
Nation, einen Gegensatz, der in unserm Volksleben tief begründet ist, völlig
aufheben und verwischen zu können gemeint, den Gegensatz zwischen ländlichem
und städtischem Leben. Und doch ist es gerade dieser Gegensatz zwischen dem
stets fluktuirenden und vorwürtstreibenden Leben der Stadt und dem mehr
stagnirenden, konservativen, oft zurücktreibenden Leben des Landes, welcher die
Geschichte unseres Volkes zum großen Theile bedingt hat. Es ist sehr be¬
merkenswerth, daß alle großen politischen und geistigen Reformen und Revo¬
lutionen, mit alleiniger Ausnahme der Bauernkriege des 16. Jahrhunderts,
ihren Ursprung und Fortgang in den Städten genommen haben, von den
großen städtisch-republikanischen Bewegungen im 13. und 14. Jahrhundert und
den sozialen Bewegungen der Zünfte in eben jener Zeit an bis auf die krampf¬
haften Wallungen des Volkslebens im Jahre 1848 und die sozialistischen Be¬
wegungen der jüngsten Vergangenheit. Da liegt es denn nahe, statt mit bloßen
Theorien an diese Thatsache heranzutreten, die Entwickelung jenes Gegensatzes
in seinen einzelnen Phasen einmal zu verfolgen und den Versuch zu machen,
den Einfluß der Städte auf das wirthschaftliche, geistige und politische Leben
unseres Volkes aus seiner Genesis zu begreifen.

Die totale Umwälzung der wirthschaftlichen Verhältnisse, welche das deut¬
sche Volk, wie jedes andere, in seinem Mittelalter durchgemacht hat, spricht
sich am besten darin aus, daß in der neueren Zeit die Städte die Brennpunkte
des geistigen, politischen und wirthschaftlichen Lebens geworden sind, während
unsere Altvordern nach dem gewichtigen Zeugniß des Tacitus zu der Zeit, wo
sie mit der Römerwelt in feindlichen Kontakt kamen, einen unüberwindlichen
Widerwillen gegen jeden von Mauern eingeschlossenen Platz hatten. Der Be¬
ginn der Veränderung fällt mit der Einführung des Christenthums zusammen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/268>, abgerufen am 23.07.2024.