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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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Strafensystem den bestehenden Rechtszustand nicht mehr vor der wachsenden
Gefahr der Verschlechterung. Das sind die thatsächlichen Ergebnisse eines un-'
gebeuren Aufwandes von Witz und Scharfsinn, Geld und Arbeit auf dem Ge¬
biete der Gefängnißreform.

Wie da zu helfen, ist die Frage, die der Verfasser im letzten Abschnitte
seiner Schrift zu lösen versucht. Er antwortet: "Man muß sich zurückbesinnen
auf den Weg, den man gekommen, und man muß eine gute Wegstrecke rück¬
wärts machen, ehe sich freier Blick, klare Umschau, zielvolle Richtung wieder¬
findet. Ob der bunte Narrenhaufen unsrer Fortschrittsleute darob über Reac¬
tion zetert, ist eine verzweifelt gleichgültige Sache."

Erstens sollte gründlich gebrochen werden mit dem Besserungszwecke der
Freiheitsstrafen, und zwar zunächst in bestimmten Fällen. Denn es ist Unver¬
stand, in einigen Monaten durch edukatorische Thätigkeit im Gefängnisse heilen
zu wollen, was Jahrzehnte sittlicher Verwahrlosung verschuldet haben, oder
einen alten Verbrecher und Zuchthausstammgast zum Gegenstande ethisch-intel¬
lektueller Ausbildung zu erlesen, und es gibt eine Menge in der Hitze, aus
Fahrlässigkeit, aus augenblicklicher Schwäche begangener Verschuldungen, die
zwar durch Strafe gebüßt werden müssen, aber mit der gewöhnlichen Sittlich¬
keit, mit Bildung und Unterricht so wenig zusammenhängen, daß es unver¬
nünftige Grausamkeit ist, wenn sie dem prophylaktischen Heilverfahren besse¬
rungseifriger Gefängnißbeamten preisgegeben werden.

Sodann muß man den Freiheitsstrafen die ihnen zukommende Natur eines
Uebels zurückgeben. Die Strafe soll von jedermann als solches empfunden werden,
sie soll abschrecken, als Schmach und Pein gemieden werden. Deshalb sollen
die Freiheitsstrafen, so weit man sie nicht entbehren zu können glaubt, dem
Regime einer weichlichen, verhätschelnden, in Erziehungsversuchen spielenden
Humanität entrissen und in die strenge Herrschaft der Schmerzen und Entbeh¬
rungen hineingestellt werden. Insbesondere ist intensive Steigerung der Zwangs¬
arbeit Vonnöthen, wenn wieder Zucht und Furcht in die Strafrechtspflege ge¬
bracht werden soll. Darnach vorzüglich, nach der Härte der Zwangsarbeit,
sollten sich die Grade der Freiheitsstrafen abstufen, weniger nach dem arith¬
metischen Maßstabe der Zeitlängen. Vor der Gefahr eines Rückfalls in rohe,
sinnlose Grausamkeit ist unser Geschlecht durch seine schwachen Nerven genü¬
gend sicher gestellt. Auch die jetzt übliche übertriebene Fürsorge für reichliche
Ernährung der Gefangnen ist eine Verkehrtheit. In der ehemals gebräuch¬
lichen Verschärfung der Freiheitsstrafen durch zeitweilige Beschränkung der
Kost auf Wasser und Brod lag mehr wahre Humanität als in der heutigen
Gefängnißpflege, welche trotz aller rationellen Speisereglements durch unver¬
nünftige Länge der Einsparung Körper und Seelen verwüstet.


Strafensystem den bestehenden Rechtszustand nicht mehr vor der wachsenden
Gefahr der Verschlechterung. Das sind die thatsächlichen Ergebnisse eines un-'
gebeuren Aufwandes von Witz und Scharfsinn, Geld und Arbeit auf dem Ge¬
biete der Gefängnißreform.

Wie da zu helfen, ist die Frage, die der Verfasser im letzten Abschnitte
seiner Schrift zu lösen versucht. Er antwortet: „Man muß sich zurückbesinnen
auf den Weg, den man gekommen, und man muß eine gute Wegstrecke rück¬
wärts machen, ehe sich freier Blick, klare Umschau, zielvolle Richtung wieder¬
findet. Ob der bunte Narrenhaufen unsrer Fortschrittsleute darob über Reac¬
tion zetert, ist eine verzweifelt gleichgültige Sache."

Erstens sollte gründlich gebrochen werden mit dem Besserungszwecke der
Freiheitsstrafen, und zwar zunächst in bestimmten Fällen. Denn es ist Unver¬
stand, in einigen Monaten durch edukatorische Thätigkeit im Gefängnisse heilen
zu wollen, was Jahrzehnte sittlicher Verwahrlosung verschuldet haben, oder
einen alten Verbrecher und Zuchthausstammgast zum Gegenstande ethisch-intel¬
lektueller Ausbildung zu erlesen, und es gibt eine Menge in der Hitze, aus
Fahrlässigkeit, aus augenblicklicher Schwäche begangener Verschuldungen, die
zwar durch Strafe gebüßt werden müssen, aber mit der gewöhnlichen Sittlich¬
keit, mit Bildung und Unterricht so wenig zusammenhängen, daß es unver¬
nünftige Grausamkeit ist, wenn sie dem prophylaktischen Heilverfahren besse¬
rungseifriger Gefängnißbeamten preisgegeben werden.

Sodann muß man den Freiheitsstrafen die ihnen zukommende Natur eines
Uebels zurückgeben. Die Strafe soll von jedermann als solches empfunden werden,
sie soll abschrecken, als Schmach und Pein gemieden werden. Deshalb sollen
die Freiheitsstrafen, so weit man sie nicht entbehren zu können glaubt, dem
Regime einer weichlichen, verhätschelnden, in Erziehungsversuchen spielenden
Humanität entrissen und in die strenge Herrschaft der Schmerzen und Entbeh¬
rungen hineingestellt werden. Insbesondere ist intensive Steigerung der Zwangs¬
arbeit Vonnöthen, wenn wieder Zucht und Furcht in die Strafrechtspflege ge¬
bracht werden soll. Darnach vorzüglich, nach der Härte der Zwangsarbeit,
sollten sich die Grade der Freiheitsstrafen abstufen, weniger nach dem arith¬
metischen Maßstabe der Zeitlängen. Vor der Gefahr eines Rückfalls in rohe,
sinnlose Grausamkeit ist unser Geschlecht durch seine schwachen Nerven genü¬
gend sicher gestellt. Auch die jetzt übliche übertriebene Fürsorge für reichliche
Ernährung der Gefangnen ist eine Verkehrtheit. In der ehemals gebräuch¬
lichen Verschärfung der Freiheitsstrafen durch zeitweilige Beschränkung der
Kost auf Wasser und Brod lag mehr wahre Humanität als in der heutigen
Gefängnißpflege, welche trotz aller rationellen Speisereglements durch unver¬
nünftige Länge der Einsparung Körper und Seelen verwüstet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/246>, abgerufen am 23.07.2024.