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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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den Zusammenhang zwischen der Predigt und den mittelalterlichen Kunstdar¬
stellungen nachzuweisen. Honorius lebte zur Zeit Kaiser Heinrichs V. zu An¬
fang des 12. Jahrhunderts. Kein schöpferischer Geist, sondern ein simpler
Kompilator mit encyklopädischer Bildung, repräsentirt er vortrefflich die
herrschende Durchschnittsbildung und das geistige Besitzthum weiterer Kreise
seiner Zeit. Unter andern encyklopädischen Werken hatte er auch zu Nutz
und Frommen von Priestern, die keine Fähigkeit oder keine Lust hatten, ihre
Kanzelreden selbst zu entwerfen, eine Reihe von Predigtmustern, nach dem
Kirchenjahre geordnet, niedergeschrieben. Diese für praktische Zwecke bestimmte
Sammlung, das LxsLulura seolosias, gestattet uns einen überraschend reichen
Einblick in den Anschauungskreis, der das Volksgemttth in der romanischen
Periode bewegte und -- sich in den gleichzeitigen Kunstdarstellungen verkörperte.

Die Reihe der Typen und Prciefigurationen scheint bei Honorius kein
Ende zu finden; zahllos sind die Bedeutungen, die ein Name, eine Zahl, eine
Person, ein Ereigniß in sich birgt. Den größten Raum nehmen die Parallelen
zwischen dem alten und dem neuen Testamente in Anspruch. Die Verkündigung
und die Geburt Jsaaks ist das Vorbild der Verkündigung und Geburt Christi,
die xortg, via-usa Ezechiels, Aarons blühender Stab, der brennende Dornbusch,
der Mannaregen, Gideons Fell werden auf Maria bezogen, Abels und Abrahams
Opfer und der Sündenbock werden in der Passionspredigt angeführt, Jonas
als Typus der Auferstehung gefeiert. Noch wichtiger aber ist es, daß auch die
Ereignisse des neuen Testamentes bei Honorius untereinander verknüpft werden.
In der Predigt am Feste der Erscheinung Christi werden die Epiphanie, die
Taufe Christi und die Hochzeit zu Kana als auf ein und denselben Tag fallend
gefeiert (genau so, wie es z. B. in den dnrch ihre angebliche Dunkelheit
berüchtigten Reliefs in der äußern Apsiswand zu Schöngrabern in Nieder¬
österreich geschehen ist). Dabei hält sich Honorius ebenso wenig wie die
mittelalterlichen Künstler streng an die kanonischen Bücher des neuen Testaments.
Er kann den Aufputz der Sage nicht missen, ja er dringt sogar auf heidnisches
Gebiet vor. Er schildert das vergebliche Bemühen des Sisyphus und der
Danaiden, den Stein zu wälzen und Wasser in durchlöcherte Fässer zu schöpfen,
er gedenkt der abwehrenden Kraft des Medusenhauptes und erzählt von den
Lockungen der Sirenen und wie Odysseus ihnen widerstanden. Zahlreich zieht
er, ganz wie die gleichzeitige Kunst, Thiergestalten zur Erläuterung von Lehren
und Sittenregeln heran. Die meisten solcher Thiergestalten werden in der
Predigt am Palmsonntage angeführt, wo Christus als Sieger über alle Ver¬
suchungen und Verfolgungen gepriesen wird. Die Worte: "Du wirst die Schlange
zertreten" (äiaevusm oonouIeMs) und "Befreie mich aus dem Rache" des
Löwen" (lidors. ins als oro Isonis) sind der Gegenstand besonders eingehender


den Zusammenhang zwischen der Predigt und den mittelalterlichen Kunstdar¬
stellungen nachzuweisen. Honorius lebte zur Zeit Kaiser Heinrichs V. zu An¬
fang des 12. Jahrhunderts. Kein schöpferischer Geist, sondern ein simpler
Kompilator mit encyklopädischer Bildung, repräsentirt er vortrefflich die
herrschende Durchschnittsbildung und das geistige Besitzthum weiterer Kreise
seiner Zeit. Unter andern encyklopädischen Werken hatte er auch zu Nutz
und Frommen von Priestern, die keine Fähigkeit oder keine Lust hatten, ihre
Kanzelreden selbst zu entwerfen, eine Reihe von Predigtmustern, nach dem
Kirchenjahre geordnet, niedergeschrieben. Diese für praktische Zwecke bestimmte
Sammlung, das LxsLulura seolosias, gestattet uns einen überraschend reichen
Einblick in den Anschauungskreis, der das Volksgemttth in der romanischen
Periode bewegte und — sich in den gleichzeitigen Kunstdarstellungen verkörperte.

Die Reihe der Typen und Prciefigurationen scheint bei Honorius kein
Ende zu finden; zahllos sind die Bedeutungen, die ein Name, eine Zahl, eine
Person, ein Ereigniß in sich birgt. Den größten Raum nehmen die Parallelen
zwischen dem alten und dem neuen Testamente in Anspruch. Die Verkündigung
und die Geburt Jsaaks ist das Vorbild der Verkündigung und Geburt Christi,
die xortg, via-usa Ezechiels, Aarons blühender Stab, der brennende Dornbusch,
der Mannaregen, Gideons Fell werden auf Maria bezogen, Abels und Abrahams
Opfer und der Sündenbock werden in der Passionspredigt angeführt, Jonas
als Typus der Auferstehung gefeiert. Noch wichtiger aber ist es, daß auch die
Ereignisse des neuen Testamentes bei Honorius untereinander verknüpft werden.
In der Predigt am Feste der Erscheinung Christi werden die Epiphanie, die
Taufe Christi und die Hochzeit zu Kana als auf ein und denselben Tag fallend
gefeiert (genau so, wie es z. B. in den dnrch ihre angebliche Dunkelheit
berüchtigten Reliefs in der äußern Apsiswand zu Schöngrabern in Nieder¬
österreich geschehen ist). Dabei hält sich Honorius ebenso wenig wie die
mittelalterlichen Künstler streng an die kanonischen Bücher des neuen Testaments.
Er kann den Aufputz der Sage nicht missen, ja er dringt sogar auf heidnisches
Gebiet vor. Er schildert das vergebliche Bemühen des Sisyphus und der
Danaiden, den Stein zu wälzen und Wasser in durchlöcherte Fässer zu schöpfen,
er gedenkt der abwehrenden Kraft des Medusenhauptes und erzählt von den
Lockungen der Sirenen und wie Odysseus ihnen widerstanden. Zahlreich zieht
er, ganz wie die gleichzeitige Kunst, Thiergestalten zur Erläuterung von Lehren
und Sittenregeln heran. Die meisten solcher Thiergestalten werden in der
Predigt am Palmsonntage angeführt, wo Christus als Sieger über alle Ver¬
suchungen und Verfolgungen gepriesen wird. Die Worte: „Du wirst die Schlange
zertreten" (äiaevusm oonouIeMs) und „Befreie mich aus dem Rache« des
Löwen" (lidors. ins als oro Isonis) sind der Gegenstand besonders eingehender


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[0228] den Zusammenhang zwischen der Predigt und den mittelalterlichen Kunstdar¬ stellungen nachzuweisen. Honorius lebte zur Zeit Kaiser Heinrichs V. zu An¬ fang des 12. Jahrhunderts. Kein schöpferischer Geist, sondern ein simpler Kompilator mit encyklopädischer Bildung, repräsentirt er vortrefflich die herrschende Durchschnittsbildung und das geistige Besitzthum weiterer Kreise seiner Zeit. Unter andern encyklopädischen Werken hatte er auch zu Nutz und Frommen von Priestern, die keine Fähigkeit oder keine Lust hatten, ihre Kanzelreden selbst zu entwerfen, eine Reihe von Predigtmustern, nach dem Kirchenjahre geordnet, niedergeschrieben. Diese für praktische Zwecke bestimmte Sammlung, das LxsLulura seolosias, gestattet uns einen überraschend reichen Einblick in den Anschauungskreis, der das Volksgemttth in der romanischen Periode bewegte und — sich in den gleichzeitigen Kunstdarstellungen verkörperte. Die Reihe der Typen und Prciefigurationen scheint bei Honorius kein Ende zu finden; zahllos sind die Bedeutungen, die ein Name, eine Zahl, eine Person, ein Ereigniß in sich birgt. Den größten Raum nehmen die Parallelen zwischen dem alten und dem neuen Testamente in Anspruch. Die Verkündigung und die Geburt Jsaaks ist das Vorbild der Verkündigung und Geburt Christi, die xortg, via-usa Ezechiels, Aarons blühender Stab, der brennende Dornbusch, der Mannaregen, Gideons Fell werden auf Maria bezogen, Abels und Abrahams Opfer und der Sündenbock werden in der Passionspredigt angeführt, Jonas als Typus der Auferstehung gefeiert. Noch wichtiger aber ist es, daß auch die Ereignisse des neuen Testamentes bei Honorius untereinander verknüpft werden. In der Predigt am Feste der Erscheinung Christi werden die Epiphanie, die Taufe Christi und die Hochzeit zu Kana als auf ein und denselben Tag fallend gefeiert (genau so, wie es z. B. in den dnrch ihre angebliche Dunkelheit berüchtigten Reliefs in der äußern Apsiswand zu Schöngrabern in Nieder¬ österreich geschehen ist). Dabei hält sich Honorius ebenso wenig wie die mittelalterlichen Künstler streng an die kanonischen Bücher des neuen Testaments. Er kann den Aufputz der Sage nicht missen, ja er dringt sogar auf heidnisches Gebiet vor. Er schildert das vergebliche Bemühen des Sisyphus und der Danaiden, den Stein zu wälzen und Wasser in durchlöcherte Fässer zu schöpfen, er gedenkt der abwehrenden Kraft des Medusenhauptes und erzählt von den Lockungen der Sirenen und wie Odysseus ihnen widerstanden. Zahlreich zieht er, ganz wie die gleichzeitige Kunst, Thiergestalten zur Erläuterung von Lehren und Sittenregeln heran. Die meisten solcher Thiergestalten werden in der Predigt am Palmsonntage angeführt, wo Christus als Sieger über alle Ver¬ suchungen und Verfolgungen gepriesen wird. Die Worte: „Du wirst die Schlange zertreten" (äiaevusm oonouIeMs) und „Befreie mich aus dem Rache« des Löwen" (lidors. ins als oro Isonis) sind der Gegenstand besonders eingehender

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/228>, abgerufen am 23.07.2024.