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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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des von Larkens' Eröffnungen wie betäubten Rollen. Den eigenartigsten, reichsten
Schatz innerer Erfahrung aber thut der Dichter immer da auf, wo Kindheits-
erinnerungen zur Sprache kommen. Neben der psychologischen Tiefe zeichnet
der hohe künstlerische Ernst das Werk aus. Auch wo er das Gräßliche schil¬
dert, schildert Mörike niemals gräßlich, und überall wahrt er die Ueberlegen-
heit des Erzählers über die Personen seiner Dichtung. Hob den Roman schon
in seiner ersten Gestalt poetischer Reichthum und liebevolle Vertiefung in den
Gegenstand hoch über die Sphäre der gewöhnlichen Romanliteratur empor, so
hat er in der Umarbeitung durch den gereiften Kunstsinn des Verfassers an
maßvoller Haltung und Adel der Sprache gewonnen. Unter den Charakteren
ist in der Bearbeitung am tiefsten umgestaltet und am meisten gehoben -- mehr
fast, als der Oekonomie des Ganzen entspricht -- die Gräfin. Die Perlenkette,
deren Schicksale ihren eigenen wechselvollen Schicksalen treu zur Seite gehen,
ist ein Symbol von einer Einfachheit und Tiefe, wie nur die echten Dichter
sie finden. Klaiber bedauert, daß uns die Lücke, die sich in Mörikes Bearbei¬
tung fand, über die ferneren Schicksale der Gräfin im Unklaren lasse; ich kann
ihm darin nicht beistimmen. Die Uebersendung der Perlenschnur an Rollen
sagt uns Alles, was wir in einem solchen Falle zu hören wünschen, und sagt
es uns so schön, wie wir es sehr selten hören.

Nach dem "Rollen" hat Mörike ein größeres Werk nicht mehr unter¬
nommen. Kränklichkeit ließ die Lust dazu nicht aufkommen, das Leben brachte
ihm keinen großen Stoff, der zur Gestaltung drängte. Und er schuf nichts ohne
Stimmung, ohne Drang. Seinem spezifischen Wesen aber, das sich in der länd¬
lichen Stille aus der Gährung des Jünglingsalters immer reiner abklärte,
seiner kindlichen Natur, seiner idyllischen Richtung, seiner Neigung, sich in die
Gegenstände zu versenken und sie behaglich auszuschöpfen, Hütte eine kompli-
zirte, bewegte Handlung nicht einmal zugesagt. Dem "Rollen" noch ganz nahe
steht "Lucie Gelmeroth" (1834), eine Novelle, die ein psychologisch-pathologi¬
sches Problem behandelt und das Gebiet der Kriminalgeschichte wenigstens
streift. Erquickenden Wechsel bringt in die schwüle Atmosphäre die Kindheits¬
episode, ein Bestandstück, das nicht leicht einer Komposition unseres Dichters
fehlt. In feinere psychologische Vorgänge vertieft sich Mörike dann nur noch
einmal wieder in der'Mozart-Novelle (1856). Die Märchen und die "Idylle
vom Bodensee" zeigen nur die einfachsten Charaktere und Motive. Unter den
Märchen kranken die früheren, "Der Bauer und sein Sohn" und "Der Schatz"
(1836), bei echt dichterischen Schönheiten an einer phantastischen Vermischung
des Wirklichen und Wunderbaren. Märchennovellistik hat man diese Misch¬
gattung genannt. Innerhalb dieser Jugendperiode bildet der "Schatz" durch
geschickte Anlage, durch Frische und Glanz der Darstellung einen Höhepunkt.


des von Larkens' Eröffnungen wie betäubten Rollen. Den eigenartigsten, reichsten
Schatz innerer Erfahrung aber thut der Dichter immer da auf, wo Kindheits-
erinnerungen zur Sprache kommen. Neben der psychologischen Tiefe zeichnet
der hohe künstlerische Ernst das Werk aus. Auch wo er das Gräßliche schil¬
dert, schildert Mörike niemals gräßlich, und überall wahrt er die Ueberlegen-
heit des Erzählers über die Personen seiner Dichtung. Hob den Roman schon
in seiner ersten Gestalt poetischer Reichthum und liebevolle Vertiefung in den
Gegenstand hoch über die Sphäre der gewöhnlichen Romanliteratur empor, so
hat er in der Umarbeitung durch den gereiften Kunstsinn des Verfassers an
maßvoller Haltung und Adel der Sprache gewonnen. Unter den Charakteren
ist in der Bearbeitung am tiefsten umgestaltet und am meisten gehoben — mehr
fast, als der Oekonomie des Ganzen entspricht — die Gräfin. Die Perlenkette,
deren Schicksale ihren eigenen wechselvollen Schicksalen treu zur Seite gehen,
ist ein Symbol von einer Einfachheit und Tiefe, wie nur die echten Dichter
sie finden. Klaiber bedauert, daß uns die Lücke, die sich in Mörikes Bearbei¬
tung fand, über die ferneren Schicksale der Gräfin im Unklaren lasse; ich kann
ihm darin nicht beistimmen. Die Uebersendung der Perlenschnur an Rollen
sagt uns Alles, was wir in einem solchen Falle zu hören wünschen, und sagt
es uns so schön, wie wir es sehr selten hören.

Nach dem „Rollen" hat Mörike ein größeres Werk nicht mehr unter¬
nommen. Kränklichkeit ließ die Lust dazu nicht aufkommen, das Leben brachte
ihm keinen großen Stoff, der zur Gestaltung drängte. Und er schuf nichts ohne
Stimmung, ohne Drang. Seinem spezifischen Wesen aber, das sich in der länd¬
lichen Stille aus der Gährung des Jünglingsalters immer reiner abklärte,
seiner kindlichen Natur, seiner idyllischen Richtung, seiner Neigung, sich in die
Gegenstände zu versenken und sie behaglich auszuschöpfen, Hütte eine kompli-
zirte, bewegte Handlung nicht einmal zugesagt. Dem „Rollen" noch ganz nahe
steht „Lucie Gelmeroth" (1834), eine Novelle, die ein psychologisch-pathologi¬
sches Problem behandelt und das Gebiet der Kriminalgeschichte wenigstens
streift. Erquickenden Wechsel bringt in die schwüle Atmosphäre die Kindheits¬
episode, ein Bestandstück, das nicht leicht einer Komposition unseres Dichters
fehlt. In feinere psychologische Vorgänge vertieft sich Mörike dann nur noch
einmal wieder in der'Mozart-Novelle (1856). Die Märchen und die „Idylle
vom Bodensee" zeigen nur die einfachsten Charaktere und Motive. Unter den
Märchen kranken die früheren, „Der Bauer und sein Sohn" und „Der Schatz"
(1836), bei echt dichterischen Schönheiten an einer phantastischen Vermischung
des Wirklichen und Wunderbaren. Märchennovellistik hat man diese Misch¬
gattung genannt. Innerhalb dieser Jugendperiode bildet der „Schatz" durch
geschickte Anlage, durch Frische und Glanz der Darstellung einen Höhepunkt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/184>, abgerufen am 26.08.2024.