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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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daß bereits vor vielen Jahren in Berlin eine Separatausgabe erschienen sei,
meinte er lächelnd: ,Ja, was erscheint nicht alles in Berlins Verstimmt
wurde der Beamte nur durch die ihm klargestellte Thatsache, daß das ,Tage-
buch^ sogar in der Goedekeschen Ausgabe von Goethe enthalten sei. Es blieb
jedoch bei der Beschlagnahme -- die wunderlichste Konfiskation, welche im
Nachmärz wohl in Wien vorgekommen sein mag. Wenn der alte Geheimrath
hätte erleben können, von Regiernngswegen aus ,Sittlichkeitsgründen^ gema߬
regelt zu werden, so würde das für seine mannigfachen Lebenserfahrungen eine
heitere Bereicherung gewesen sein. Nachschrift. Um 12 Uhr Mittags theilt
man uns mit, daß die Konfiskation auf nachträgliche Verfügung der Staats¬
anwaltschaft wieder aufgehoben wurde, da Hr. Rosner einen Band Goethe,
welcher das ,beanständete^ Gedicht enthielt, zur betreffenden Amtsstelle sendete
und dadurch die Rücknahme der Maßregel bewirkte. Wäre es bei der Konfis¬
kation verblieben, so hätten sich die Wiener Buchhandlungen auf eine förmliche
Razzia nach allen Werken gefaßt machen müssen, die über den Ton sür höhere
Töchterschulen hinausstreben. Als komisches Detail von der Konfiskation wird
erzählt, daß der fnngirende Beamte den Buchhändler auch nach dem Manu¬
skript gefragt habe, daß dasselbe aber leider nicht gefunden werden konnte."

In der That, höchst "pikant", höchst "sensationell" zugleich -- in Wien
im Jahre des Heils 1879 der alte Goethe konfiszirt! Und mit wie artigen
Witz die ganze Korrespondenz gefaßt! Es konnte nicht fehlen, daß die ge-
sammte deutsche Tagespresse bis herab zum letzten Winkelblättchen mit der
üblichen Gedankenlosigkeit und Ignoranz die Notiz nachdruckte. Man kann
drauf wetten, daß von hundert Redakteuren, die mit Behagen den Zeitungs¬
ausschnitt in die Druckerei schickten, keine zwei oder drei das Goethische Ge¬
dicht gekannt haben.

Die Rosnersche Verlagshandlung in Wien steht aber mit ihrem edlen Be¬
mühen, die Kenntniß unseres Dichterfürsten im Volke zu erweitern, nicht allein
da. Vor uns liegt außer dem Rosnerschen noch ein zweiter Separatabdruck
des Gedichtes, den die Firma Fetter in Karlsbad besorgt hat, und der sogar
die Bezeichnung trägt: "Vierte Auflage, 1880"; Rosner hat es, soviel wir
wissen, erst zu einer zweiten Auflage gebracht. Welcher von beiden Firmen in
diesem edlen Wetteifer die Priorität gebührt, wissen wir nicht sicher. Wundern
sollte es uns aber gar nicht, wenn in der nächsten Zeit noch ein halb Dutzend
andere Firmen in die Konkurrenz einträten. Der Wiener wie der Karlsbader
Druck kosten ja jeder im Ladenpreis 60 Reichspfennige, und für 40, ja für
30, 20, 10 Pfennige ist er bequem herzustellen. Sicherlich ein lohnendes
Arbeitsfeld für strebsame Verlagsbuchhändler!

Es kann uns nicht in den Sinn kommen, die Maßregel der Wiener


daß bereits vor vielen Jahren in Berlin eine Separatausgabe erschienen sei,
meinte er lächelnd: ,Ja, was erscheint nicht alles in Berlins Verstimmt
wurde der Beamte nur durch die ihm klargestellte Thatsache, daß das ,Tage-
buch^ sogar in der Goedekeschen Ausgabe von Goethe enthalten sei. Es blieb
jedoch bei der Beschlagnahme — die wunderlichste Konfiskation, welche im
Nachmärz wohl in Wien vorgekommen sein mag. Wenn der alte Geheimrath
hätte erleben können, von Regiernngswegen aus ,Sittlichkeitsgründen^ gema߬
regelt zu werden, so würde das für seine mannigfachen Lebenserfahrungen eine
heitere Bereicherung gewesen sein. Nachschrift. Um 12 Uhr Mittags theilt
man uns mit, daß die Konfiskation auf nachträgliche Verfügung der Staats¬
anwaltschaft wieder aufgehoben wurde, da Hr. Rosner einen Band Goethe,
welcher das ,beanständete^ Gedicht enthielt, zur betreffenden Amtsstelle sendete
und dadurch die Rücknahme der Maßregel bewirkte. Wäre es bei der Konfis¬
kation verblieben, so hätten sich die Wiener Buchhandlungen auf eine förmliche
Razzia nach allen Werken gefaßt machen müssen, die über den Ton sür höhere
Töchterschulen hinausstreben. Als komisches Detail von der Konfiskation wird
erzählt, daß der fnngirende Beamte den Buchhändler auch nach dem Manu¬
skript gefragt habe, daß dasselbe aber leider nicht gefunden werden konnte."

In der That, höchst „pikant", höchst „sensationell" zugleich — in Wien
im Jahre des Heils 1879 der alte Goethe konfiszirt! Und mit wie artigen
Witz die ganze Korrespondenz gefaßt! Es konnte nicht fehlen, daß die ge-
sammte deutsche Tagespresse bis herab zum letzten Winkelblättchen mit der
üblichen Gedankenlosigkeit und Ignoranz die Notiz nachdruckte. Man kann
drauf wetten, daß von hundert Redakteuren, die mit Behagen den Zeitungs¬
ausschnitt in die Druckerei schickten, keine zwei oder drei das Goethische Ge¬
dicht gekannt haben.

Die Rosnersche Verlagshandlung in Wien steht aber mit ihrem edlen Be¬
mühen, die Kenntniß unseres Dichterfürsten im Volke zu erweitern, nicht allein
da. Vor uns liegt außer dem Rosnerschen noch ein zweiter Separatabdruck
des Gedichtes, den die Firma Fetter in Karlsbad besorgt hat, und der sogar
die Bezeichnung trägt: „Vierte Auflage, 1880"; Rosner hat es, soviel wir
wissen, erst zu einer zweiten Auflage gebracht. Welcher von beiden Firmen in
diesem edlen Wetteifer die Priorität gebührt, wissen wir nicht sicher. Wundern
sollte es uns aber gar nicht, wenn in der nächsten Zeit noch ein halb Dutzend
andere Firmen in die Konkurrenz einträten. Der Wiener wie der Karlsbader
Druck kosten ja jeder im Ladenpreis 60 Reichspfennige, und für 40, ja für
30, 20, 10 Pfennige ist er bequem herzustellen. Sicherlich ein lohnendes
Arbeitsfeld für strebsame Verlagsbuchhändler!

Es kann uns nicht in den Sinn kommen, die Maßregel der Wiener


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/108>, abgerufen am 23.07.2024.