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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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der Taufe begangnen Sünden -- in eine Vielheit von Akten auseinander, in¬
dem jede nach der Taufe begangene Sünde durch das Sakrament der Buße
allein getilgt werden kann; vergegenwärtigen wir uns nun, daß dies Sakra¬
ment, in der Reue sich einleitend, in der Beichte fortschreitend, in der genug¬
thuenden Leistung des Büßenden zum Abschluß kommt, so zeigt sich von neuem,
daß Leistungen des Menschen und zwar hier sichtbare, einzelne Leistungen des¬
selben, zu Bedingungen für den Erwerb der göttlichen Gnade gemacht werden.
Zugleich tritt auch hier sehr stark die Bedeutung des sozialen Faktors der
Kirche hervor, indem ihr Repräsentant, der Priester, ausschließlich dies Sakra¬
ment, wie überhaupt die Sakramente, zu verwalten vermag. Wie anders ge¬
staltet sich die Nechtfertigungsidee nach protestantischer Lehre! Hier ist die
Rechtfertigung ein in sich abgeschlossener Akt der Sündenvergebung, der keiner
Ergänzung, nur stetiger Aneignung bedarf; der an keine Leistung des Menschen,
sondern allein an den Glauben, an das an sich selbst verzagende, auf Gottes
Gnade in Christus allein gerichtete Heilsverlangen der Seele geknüpft ist. Sie
ist also ein Vorgang, der in den Tiefen der einzelnen Persönlichkeit sich bewegt,
in welcher diese unmittelbar ihrem Gotte gegenübersteht. Und dieser Akt der
Rechtfertigung ist zugleich gedacht als der Ausgangspunkt einer sittlichen Er¬
neuerung, die organisch von innen heraus den ganzen Menschen ergreift. Hier
ist der menschliche Faktor herabgedrückt, der göttliche Faktor dagegen zur alles
durchdringenden und bestimmenden Macht erhoben; nicht in dem Sinne, als ob
diese magisch wirkte und jener völlig aufgehoben wäre; aber in der Meinung
allerdings, daß der göttlichen Gnade, gegenüber dem menschlichen Faktor, jeg¬
licher Werth abgesprochen wird, der ihn zu Ansprüchen an sie oder zu ergän¬
zender Mitwirkung befähigen könnte. Wir werden wohl nicht fehlgehen, wenn
wir in diesem materiellen Gegensatz den formalen zwischen einer höheren und
niederen Sittlichkeit sich abspiegeln sehen. Denn es ist klar, daß da, wo jene
als Ziel gesetzt ist, das Bewußtsein eigener Ohnmacht sich regen muß; während
da, wo der Blick wesentlich auf diese gerichtet ist, für die eigene Leistung Spiel¬
raum übrig bleibt.

Treten wir nun, im Hinblick auf die Differenz der ethischen Physiognomieen,
die wir eben gezeichnet haben, der Frage näher, die uns hier beschäftigen soll,
und versuchen wir zuerst von einem allgemeineren Standpunkte ans, uns dar¬
über zu entscheiden, welche von beiden Konfessionen am meisten qualifizirt ist,
mystische Elemente in sich aufzunehmen; oder, wenn es sich zeigen sollte,
daß die Wagschale sich weder nach der einen noch nach der andern Seite neigt,
welche Gestalt hier und welche dort denselben eigen sein wird.

Beantworten wir vor allem die Frage, worin wir das Eigenthümliche einer
mystischen Lebensrichtung zu suchen haben, so scheint es, als ob wir an drei


der Taufe begangnen Sünden — in eine Vielheit von Akten auseinander, in¬
dem jede nach der Taufe begangene Sünde durch das Sakrament der Buße
allein getilgt werden kann; vergegenwärtigen wir uns nun, daß dies Sakra¬
ment, in der Reue sich einleitend, in der Beichte fortschreitend, in der genug¬
thuenden Leistung des Büßenden zum Abschluß kommt, so zeigt sich von neuem,
daß Leistungen des Menschen und zwar hier sichtbare, einzelne Leistungen des¬
selben, zu Bedingungen für den Erwerb der göttlichen Gnade gemacht werden.
Zugleich tritt auch hier sehr stark die Bedeutung des sozialen Faktors der
Kirche hervor, indem ihr Repräsentant, der Priester, ausschließlich dies Sakra¬
ment, wie überhaupt die Sakramente, zu verwalten vermag. Wie anders ge¬
staltet sich die Nechtfertigungsidee nach protestantischer Lehre! Hier ist die
Rechtfertigung ein in sich abgeschlossener Akt der Sündenvergebung, der keiner
Ergänzung, nur stetiger Aneignung bedarf; der an keine Leistung des Menschen,
sondern allein an den Glauben, an das an sich selbst verzagende, auf Gottes
Gnade in Christus allein gerichtete Heilsverlangen der Seele geknüpft ist. Sie
ist also ein Vorgang, der in den Tiefen der einzelnen Persönlichkeit sich bewegt,
in welcher diese unmittelbar ihrem Gotte gegenübersteht. Und dieser Akt der
Rechtfertigung ist zugleich gedacht als der Ausgangspunkt einer sittlichen Er¬
neuerung, die organisch von innen heraus den ganzen Menschen ergreift. Hier
ist der menschliche Faktor herabgedrückt, der göttliche Faktor dagegen zur alles
durchdringenden und bestimmenden Macht erhoben; nicht in dem Sinne, als ob
diese magisch wirkte und jener völlig aufgehoben wäre; aber in der Meinung
allerdings, daß der göttlichen Gnade, gegenüber dem menschlichen Faktor, jeg¬
licher Werth abgesprochen wird, der ihn zu Ansprüchen an sie oder zu ergän¬
zender Mitwirkung befähigen könnte. Wir werden wohl nicht fehlgehen, wenn
wir in diesem materiellen Gegensatz den formalen zwischen einer höheren und
niederen Sittlichkeit sich abspiegeln sehen. Denn es ist klar, daß da, wo jene
als Ziel gesetzt ist, das Bewußtsein eigener Ohnmacht sich regen muß; während
da, wo der Blick wesentlich auf diese gerichtet ist, für die eigene Leistung Spiel¬
raum übrig bleibt.

Treten wir nun, im Hinblick auf die Differenz der ethischen Physiognomieen,
die wir eben gezeichnet haben, der Frage näher, die uns hier beschäftigen soll,
und versuchen wir zuerst von einem allgemeineren Standpunkte ans, uns dar¬
über zu entscheiden, welche von beiden Konfessionen am meisten qualifizirt ist,
mystische Elemente in sich aufzunehmen; oder, wenn es sich zeigen sollte,
daß die Wagschale sich weder nach der einen noch nach der andern Seite neigt,
welche Gestalt hier und welche dort denselben eigen sein wird.

Beantworten wir vor allem die Frage, worin wir das Eigenthümliche einer
mystischen Lebensrichtung zu suchen haben, so scheint es, als ob wir an drei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/100>, abgerufen am 23.07.2024.