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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Abschied?" -- Darauf läßt sich nur antworten: Einmal mußte es doch ge¬
schehen, und der jetzige Moment war dazu günstig. Andrassy ist offenbar
längst entschlossen gewesen, sich von der Leitung der auswärtigen Angelegen¬
heiten im Doppelstaat an der Donau zurückzuziehen. Er hat mit der Aus¬
führung dieses Planes nur gewartet, bis die letzten Wellen des orientalischen
Krieges sich gelegt, bis die Wnmung der Balkanhalbinsel seitens der russischen
Armee sich vollzogen hatte, und bis andrerseits das Mandat zur Besetzung
Bosnien's, welches Oesterreich-Ungarn in Berlin übertragen wurde, durchge¬
führt und von den gesetzgebenden Gewalten der beiden Reichshälften gutge¬
heißen war.

Rußland hat seinen Verpflichtungen in jener Beziehung entsprochen. Nun
scheint es zwar, als ob die politische Schule, die aus der Erfüllung einer Ver¬
tragspflicht nach der einen Richtung das Recht ableitet, nach andern Richtungen
hin Schwierigkeiten zu erheben, in Petersburg noch Geltung besäße. Gerade
seit der vollzogenen Räumung des Bnlgarenlandes entwickelt man dort eine
lebhafte diplomatische Thätigkeit, indem man in der Arad-Tabia-Frage schon
mit dem dritten Vorschlage hervorgetreten ist und die montenegrinische Grenz-
regulirung mit größtem Nachdrucke betreibt. Aber es ist nicht zu glauben, daß
diese Meinungsverschiedenheiten zu ernsten Zerwürfnissen führen werden. Wenn
Rußland sich in die großen Entscheidungen des Berliner Vertrags gefügt hat,
so wird es nicht gesonnen sein, die Frage, ob ein paar Meilen Gebiet zu
Albanien oder dem Fürsten nitida gehören sollen, oder die nach dem geeignetsten
Punkte für eine Donanüberbrückung zu einer großen Aktion, wenn auch nur
auf diplomatischem Gebiete, zu benutzen. Die in Berlin von Oesterreich-
Ungarn verfolgten Zwecke sind also im wesentlichen erreicht. Die euro¬
päische Lage ist dadurch eine solche geworden, daß man in Wien Gelegen¬
heit hat, den Bestand der Gesammtmonarchie zu befestigen und seine Inter¬
essen genügend wahrzunehmen. "Es wäre schlimm," fügte der Graf bei der
Unterredung, in welcher er dies aussprach, hinzu, "wenn die dazu gegebene
Zeit nicht benutzt werden sollte." Der Minister hofft also für die nächsten
Jahre auf friedliche Verhältnisse, und wenn er für eine spätere Zukunft Anderes
vorauszusehen scheint, so ist ja bekannt, daß der ewige Friede vielleicht ewig
ein frommer Wunsch sein wird. Ist ein Krieg um die Erbschaft der Türkei,
an den hier zunächst zu denken, nach menschlicher Berechnung auf Jahre'hinaus
nicht zu fürchten, so kann man zufrieden sein. Graf Andrassy besitzt kein
Organisationstalent, und da jetzt für eine gute Weile die trockne, aufs Kleine
gerichtete Arbeit der Befestigung des Erreichten und des Sicheinrichtens in dem
neuen Besitz auf der Tagesordnung stehen wird, so darf er sich gestatten, sich
zur Ruhe zu setzen und sich seinen eignen Interessen zuzuwenden.


Abschied?" — Darauf läßt sich nur antworten: Einmal mußte es doch ge¬
schehen, und der jetzige Moment war dazu günstig. Andrassy ist offenbar
längst entschlossen gewesen, sich von der Leitung der auswärtigen Angelegen¬
heiten im Doppelstaat an der Donau zurückzuziehen. Er hat mit der Aus¬
führung dieses Planes nur gewartet, bis die letzten Wellen des orientalischen
Krieges sich gelegt, bis die Wnmung der Balkanhalbinsel seitens der russischen
Armee sich vollzogen hatte, und bis andrerseits das Mandat zur Besetzung
Bosnien's, welches Oesterreich-Ungarn in Berlin übertragen wurde, durchge¬
führt und von den gesetzgebenden Gewalten der beiden Reichshälften gutge¬
heißen war.

Rußland hat seinen Verpflichtungen in jener Beziehung entsprochen. Nun
scheint es zwar, als ob die politische Schule, die aus der Erfüllung einer Ver¬
tragspflicht nach der einen Richtung das Recht ableitet, nach andern Richtungen
hin Schwierigkeiten zu erheben, in Petersburg noch Geltung besäße. Gerade
seit der vollzogenen Räumung des Bnlgarenlandes entwickelt man dort eine
lebhafte diplomatische Thätigkeit, indem man in der Arad-Tabia-Frage schon
mit dem dritten Vorschlage hervorgetreten ist und die montenegrinische Grenz-
regulirung mit größtem Nachdrucke betreibt. Aber es ist nicht zu glauben, daß
diese Meinungsverschiedenheiten zu ernsten Zerwürfnissen führen werden. Wenn
Rußland sich in die großen Entscheidungen des Berliner Vertrags gefügt hat,
so wird es nicht gesonnen sein, die Frage, ob ein paar Meilen Gebiet zu
Albanien oder dem Fürsten nitida gehören sollen, oder die nach dem geeignetsten
Punkte für eine Donanüberbrückung zu einer großen Aktion, wenn auch nur
auf diplomatischem Gebiete, zu benutzen. Die in Berlin von Oesterreich-
Ungarn verfolgten Zwecke sind also im wesentlichen erreicht. Die euro¬
päische Lage ist dadurch eine solche geworden, daß man in Wien Gelegen¬
heit hat, den Bestand der Gesammtmonarchie zu befestigen und seine Inter¬
essen genügend wahrzunehmen. „Es wäre schlimm," fügte der Graf bei der
Unterredung, in welcher er dies aussprach, hinzu, „wenn die dazu gegebene
Zeit nicht benutzt werden sollte." Der Minister hofft also für die nächsten
Jahre auf friedliche Verhältnisse, und wenn er für eine spätere Zukunft Anderes
vorauszusehen scheint, so ist ja bekannt, daß der ewige Friede vielleicht ewig
ein frommer Wunsch sein wird. Ist ein Krieg um die Erbschaft der Türkei,
an den hier zunächst zu denken, nach menschlicher Berechnung auf Jahre'hinaus
nicht zu fürchten, so kann man zufrieden sein. Graf Andrassy besitzt kein
Organisationstalent, und da jetzt für eine gute Weile die trockne, aufs Kleine
gerichtete Arbeit der Befestigung des Erreichten und des Sicheinrichtens in dem
neuen Besitz auf der Tagesordnung stehen wird, so darf er sich gestatten, sich
zur Ruhe zu setzen und sich seinen eignen Interessen zuzuwenden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/510>, abgerufen am 27.07.2024.