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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Süddeutschland und die innere politische Lage.

Wenn irgend etwas geeignet ist, die tiefgehenden Verschiedenheiten, welche
zwischen Nord- und Süddentschland bestehen, und welche allerdings in dem
Charakter der beiderseitigen Bevölkerung ihren Ursprung haben, wieder einmal
klar darzuthun, so ist es die derzeitige innere politische Lage des Reiches, der
gegenüber die beiden Reichshälften einen geradezu entgegengesetzten Standpunkt
der Beurtheilung einnehmen. Mit skeptischen Mißtrauen sieht der Norden,
mit vertrauenden Gleichmuthe der Süden der Zukunft entgegen. Der Grund
davon ist kein zufälliger oder oberflächlicher. In Norddeutschland, besonders
in Preußen, ist das Parteileben ein weit ausgebildeteres als bei uns im Süden.
Der norddeutsche hat von Natur und in Folge der geschichtlichen Entwickelung
seiner Heimat ein regeres Interesse am politischen Leben und Treiben; von
den Klubbs und Zirkeln der Großstadt bis herab zur Dorfschenke dreht sich die
Unterhaltung lebhaft um die Interessen des Tages. In Süddeutschland dagegen
steht obenan das freie und fröhliche Genießen, und nur mit Mühe haftet das
Gespräch einen Augenblick bei den großen Fragen der Gegenwart. Im Norden
geht man aus, um zu kanuegießeru, im Süden, um sich zu vergnügen. Dort
steht die Kommune und der Staat, hier ein geselliger Gedankenaustausch und
heiterer Scherz obenan. Daher aber auch der Unterschied in der politischen
Stimmung, der zwischen Norden und Süden besteht. Dort stehen sich feste
Parteiungen fast in allen Beziehungen des öffentlichen Lebens gegenüber, hier
herrscht in politischer Beziehung ein gemüthliches Durcheinander und eine aus¬
gleichende Verschmelzung der verschiedenen Anschauungsweisen. Der Süddeutsche
neigt sich im Allgemeinen weder dem radikalen Liberalismus, noch dem extremen
Konservativismus zu, sondern gibt der aursa Msclioc-ritW des praktischen und
gesunden Menschenverstandes auch für sein politisches Denken und Fühlen den
Vorzug. Trug doch selbst die Bewegung von 1849 hier vielfach eher den
Charakter eines großen und wilden Trinkgelages, als den einer politischen
Revolution.


Grenzboten III. 1879. 66
Süddeutschland und die innere politische Lage.

Wenn irgend etwas geeignet ist, die tiefgehenden Verschiedenheiten, welche
zwischen Nord- und Süddentschland bestehen, und welche allerdings in dem
Charakter der beiderseitigen Bevölkerung ihren Ursprung haben, wieder einmal
klar darzuthun, so ist es die derzeitige innere politische Lage des Reiches, der
gegenüber die beiden Reichshälften einen geradezu entgegengesetzten Standpunkt
der Beurtheilung einnehmen. Mit skeptischen Mißtrauen sieht der Norden,
mit vertrauenden Gleichmuthe der Süden der Zukunft entgegen. Der Grund
davon ist kein zufälliger oder oberflächlicher. In Norddeutschland, besonders
in Preußen, ist das Parteileben ein weit ausgebildeteres als bei uns im Süden.
Der norddeutsche hat von Natur und in Folge der geschichtlichen Entwickelung
seiner Heimat ein regeres Interesse am politischen Leben und Treiben; von
den Klubbs und Zirkeln der Großstadt bis herab zur Dorfschenke dreht sich die
Unterhaltung lebhaft um die Interessen des Tages. In Süddeutschland dagegen
steht obenan das freie und fröhliche Genießen, und nur mit Mühe haftet das
Gespräch einen Augenblick bei den großen Fragen der Gegenwart. Im Norden
geht man aus, um zu kanuegießeru, im Süden, um sich zu vergnügen. Dort
steht die Kommune und der Staat, hier ein geselliger Gedankenaustausch und
heiterer Scherz obenan. Daher aber auch der Unterschied in der politischen
Stimmung, der zwischen Norden und Süden besteht. Dort stehen sich feste
Parteiungen fast in allen Beziehungen des öffentlichen Lebens gegenüber, hier
herrscht in politischer Beziehung ein gemüthliches Durcheinander und eine aus¬
gleichende Verschmelzung der verschiedenen Anschauungsweisen. Der Süddeutsche
neigt sich im Allgemeinen weder dem radikalen Liberalismus, noch dem extremen
Konservativismus zu, sondern gibt der aursa Msclioc-ritW des praktischen und
gesunden Menschenverstandes auch für sein politisches Denken und Fühlen den
Vorzug. Trug doch selbst die Bewegung von 1849 hier vielfach eher den
Charakter eines großen und wilden Trinkgelages, als den einer politischen
Revolution.


Grenzboten III. 1879. 66
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[0431] Süddeutschland und die innere politische Lage. Wenn irgend etwas geeignet ist, die tiefgehenden Verschiedenheiten, welche zwischen Nord- und Süddentschland bestehen, und welche allerdings in dem Charakter der beiderseitigen Bevölkerung ihren Ursprung haben, wieder einmal klar darzuthun, so ist es die derzeitige innere politische Lage des Reiches, der gegenüber die beiden Reichshälften einen geradezu entgegengesetzten Standpunkt der Beurtheilung einnehmen. Mit skeptischen Mißtrauen sieht der Norden, mit vertrauenden Gleichmuthe der Süden der Zukunft entgegen. Der Grund davon ist kein zufälliger oder oberflächlicher. In Norddeutschland, besonders in Preußen, ist das Parteileben ein weit ausgebildeteres als bei uns im Süden. Der norddeutsche hat von Natur und in Folge der geschichtlichen Entwickelung seiner Heimat ein regeres Interesse am politischen Leben und Treiben; von den Klubbs und Zirkeln der Großstadt bis herab zur Dorfschenke dreht sich die Unterhaltung lebhaft um die Interessen des Tages. In Süddeutschland dagegen steht obenan das freie und fröhliche Genießen, und nur mit Mühe haftet das Gespräch einen Augenblick bei den großen Fragen der Gegenwart. Im Norden geht man aus, um zu kanuegießeru, im Süden, um sich zu vergnügen. Dort steht die Kommune und der Staat, hier ein geselliger Gedankenaustausch und heiterer Scherz obenan. Daher aber auch der Unterschied in der politischen Stimmung, der zwischen Norden und Süden besteht. Dort stehen sich feste Parteiungen fast in allen Beziehungen des öffentlichen Lebens gegenüber, hier herrscht in politischer Beziehung ein gemüthliches Durcheinander und eine aus¬ gleichende Verschmelzung der verschiedenen Anschauungsweisen. Der Süddeutsche neigt sich im Allgemeinen weder dem radikalen Liberalismus, noch dem extremen Konservativismus zu, sondern gibt der aursa Msclioc-ritW des praktischen und gesunden Menschenverstandes auch für sein politisches Denken und Fühlen den Vorzug. Trug doch selbst die Bewegung von 1849 hier vielfach eher den Charakter eines großen und wilden Trinkgelages, als den einer politischen Revolution. Grenzboten III. 1879. 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/431>, abgerufen am 27.11.2024.