Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

ohne Zeitungen die eine Zeit wie die andre so vergnügt hinbrachten. ... Die
Geschichte, welche die Handlungen eines Jahrhunderts in eine selbständige Er¬
zählung zusammendrängt und die ganze Welt als immer geschäftig darstellt,
täuscht den Kenner nicht. Die heroischen Tugenden waren so wenig wie die
tändelnden unsers Jahrhunderts der Langenweile allein gewachsen."

In dem Geckenorden findet nun Möser den wichtigen Vorzug, daß er
Maskenfreiheit gab und dem Einzelnen verstattete, aus sich herauszugehen.
"Bei uns bringt man die Zeit bei Tisch wie im Staatskabinet zu und redet
mit der Vorsicht eines Gesandten. Wie glücklich waren dagegen jene klugen
Gecken, die ihren Orden anhängen und dann im Charakter ihrer Rolle mit
allen durchlauchtigsten und hochgebornen Brüdern eine stumpfe Lanze brechen
konnten." .

"Aber das beste Mittel für das Frauenzimmer, um einer Gesellschaft den
lebhaftesten Ton zu geben, war unstreitig, daß ein jedes seinen erklärten An¬
beter haben, daß jeder Dichter seiner Dame öffentlich sagen durfte, was er bei
ihrem Anblick fühlte, und daß diese ihm in eben dem Ton antwortete. Jedes
Auge mußte heitrer, jeder Mund beredter, jeder Einfall leichter sein als jetzt,
wo der Mann seiner Frau garnichts, der Liebhaber aber seine Schmeicheleien
nur heimlich sagen darf."

Lessing waren die Möser'schen Anschauungen, wenigstens in der Theorie,
äußerst sympathisch. Noch sechs Jahre später erklärt er, ihnen ganz beizu¬
treten. "Seitdem die Neuberin sud g.nsxieiis Sr. Magnificenz des Hrn. Prof.
Gottsched den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle
deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Ver¬
bannung beizutreten geschienen: ich sage, geschienen; denn im Grund hatten
sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren be¬
halten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stückchen, in welchen Harlekin
die Hauptperson war, aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und'war ganz
weiß, anstatt scheckig, gekleidet. Die Neuberin ist todt, Gottsched ist auch todt:
ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an."

Man denke sich den Hanswurst in die "Minna von Barnhelm" eingeschoben,
und man wird sich überzeugen, daß Lessing hier wieder einmal über die Schnur
hieb. Gerade das Realistische und Jndividualisirende in seiner Kunstrichtung
schloß die blos typische Figur unbedingt aus.

Im April 1761 schrieb Abbe an Möser "im Namen einer kleinen
Berlinischen Gesellschaft" einen freundlichen Brief und zeigte den "Harlekin"
in den "Literaturbriefen" an. Seitdem bestand zwischen ihnen ein lebhafter
Verkehr. Im Grunde ging Möser's Richtung ganz gegen den Strich der
Berliner: aber man ließ ihm, seiner anscheinenden Treuherzigkeit wegen, die


ohne Zeitungen die eine Zeit wie die andre so vergnügt hinbrachten. ... Die
Geschichte, welche die Handlungen eines Jahrhunderts in eine selbständige Er¬
zählung zusammendrängt und die ganze Welt als immer geschäftig darstellt,
täuscht den Kenner nicht. Die heroischen Tugenden waren so wenig wie die
tändelnden unsers Jahrhunderts der Langenweile allein gewachsen."

In dem Geckenorden findet nun Möser den wichtigen Vorzug, daß er
Maskenfreiheit gab und dem Einzelnen verstattete, aus sich herauszugehen.
„Bei uns bringt man die Zeit bei Tisch wie im Staatskabinet zu und redet
mit der Vorsicht eines Gesandten. Wie glücklich waren dagegen jene klugen
Gecken, die ihren Orden anhängen und dann im Charakter ihrer Rolle mit
allen durchlauchtigsten und hochgebornen Brüdern eine stumpfe Lanze brechen
konnten." .

„Aber das beste Mittel für das Frauenzimmer, um einer Gesellschaft den
lebhaftesten Ton zu geben, war unstreitig, daß ein jedes seinen erklärten An¬
beter haben, daß jeder Dichter seiner Dame öffentlich sagen durfte, was er bei
ihrem Anblick fühlte, und daß diese ihm in eben dem Ton antwortete. Jedes
Auge mußte heitrer, jeder Mund beredter, jeder Einfall leichter sein als jetzt,
wo der Mann seiner Frau garnichts, der Liebhaber aber seine Schmeicheleien
nur heimlich sagen darf."

Lessing waren die Möser'schen Anschauungen, wenigstens in der Theorie,
äußerst sympathisch. Noch sechs Jahre später erklärt er, ihnen ganz beizu¬
treten. „Seitdem die Neuberin sud g.nsxieiis Sr. Magnificenz des Hrn. Prof.
Gottsched den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle
deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Ver¬
bannung beizutreten geschienen: ich sage, geschienen; denn im Grund hatten
sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren be¬
halten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stückchen, in welchen Harlekin
die Hauptperson war, aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und'war ganz
weiß, anstatt scheckig, gekleidet. Die Neuberin ist todt, Gottsched ist auch todt:
ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an."

Man denke sich den Hanswurst in die „Minna von Barnhelm" eingeschoben,
und man wird sich überzeugen, daß Lessing hier wieder einmal über die Schnur
hieb. Gerade das Realistische und Jndividualisirende in seiner Kunstrichtung
schloß die blos typische Figur unbedingt aus.

Im April 1761 schrieb Abbe an Möser „im Namen einer kleinen
Berlinischen Gesellschaft" einen freundlichen Brief und zeigte den „Harlekin"
in den „Literaturbriefen" an. Seitdem bestand zwischen ihnen ein lebhafter
Verkehr. Im Grunde ging Möser's Richtung ganz gegen den Strich der
Berliner: aber man ließ ihm, seiner anscheinenden Treuherzigkeit wegen, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0034" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142531"/>
          <p xml:id="ID_96" prev="#ID_95"> ohne Zeitungen die eine Zeit wie die andre so vergnügt hinbrachten. ... Die<lb/>
Geschichte, welche die Handlungen eines Jahrhunderts in eine selbständige Er¬<lb/>
zählung zusammendrängt und die ganze Welt als immer geschäftig darstellt,<lb/>
täuscht den Kenner nicht. Die heroischen Tugenden waren so wenig wie die<lb/>
tändelnden unsers Jahrhunderts der Langenweile allein gewachsen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_97"> In dem Geckenorden findet nun Möser den wichtigen Vorzug, daß er<lb/>
Maskenfreiheit gab und dem Einzelnen verstattete, aus sich herauszugehen.<lb/>
&#x201E;Bei uns bringt man die Zeit bei Tisch wie im Staatskabinet zu und redet<lb/>
mit der Vorsicht eines Gesandten. Wie glücklich waren dagegen jene klugen<lb/>
Gecken, die ihren Orden anhängen und dann im Charakter ihrer Rolle mit<lb/>
allen durchlauchtigsten und hochgebornen Brüdern eine stumpfe Lanze brechen<lb/>
konnten." .</p><lb/>
          <p xml:id="ID_98"> &#x201E;Aber das beste Mittel für das Frauenzimmer, um einer Gesellschaft den<lb/>
lebhaftesten Ton zu geben, war unstreitig, daß ein jedes seinen erklärten An¬<lb/>
beter haben, daß jeder Dichter seiner Dame öffentlich sagen durfte, was er bei<lb/>
ihrem Anblick fühlte, und daß diese ihm in eben dem Ton antwortete. Jedes<lb/>
Auge mußte heitrer, jeder Mund beredter, jeder Einfall leichter sein als jetzt,<lb/>
wo der Mann seiner Frau garnichts, der Liebhaber aber seine Schmeicheleien<lb/>
nur heimlich sagen darf."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_99"> Lessing waren die Möser'schen Anschauungen, wenigstens in der Theorie,<lb/>
äußerst sympathisch. Noch sechs Jahre später erklärt er, ihnen ganz beizu¬<lb/>
treten. &#x201E;Seitdem die Neuberin sud g.nsxieiis Sr. Magnificenz des Hrn. Prof.<lb/>
Gottsched den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle<lb/>
deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Ver¬<lb/>
bannung beizutreten geschienen: ich sage, geschienen; denn im Grund hatten<lb/>
sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren be¬<lb/>
halten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stückchen, in welchen Harlekin<lb/>
die Hauptperson war, aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und'war ganz<lb/>
weiß, anstatt scheckig, gekleidet. Die Neuberin ist todt, Gottsched ist auch todt:<lb/>
ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_100"> Man denke sich den Hanswurst in die &#x201E;Minna von Barnhelm" eingeschoben,<lb/>
und man wird sich überzeugen, daß Lessing hier wieder einmal über die Schnur<lb/>
hieb. Gerade das Realistische und Jndividualisirende in seiner Kunstrichtung<lb/>
schloß die blos typische Figur unbedingt aus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_101" next="#ID_102"> Im April 1761 schrieb Abbe an Möser &#x201E;im Namen einer kleinen<lb/>
Berlinischen Gesellschaft" einen freundlichen Brief und zeigte den &#x201E;Harlekin"<lb/>
in den &#x201E;Literaturbriefen" an. Seitdem bestand zwischen ihnen ein lebhafter<lb/>
Verkehr. Im Grunde ging Möser's Richtung ganz gegen den Strich der<lb/>
Berliner: aber man ließ ihm, seiner anscheinenden Treuherzigkeit wegen, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0034] ohne Zeitungen die eine Zeit wie die andre so vergnügt hinbrachten. ... Die Geschichte, welche die Handlungen eines Jahrhunderts in eine selbständige Er¬ zählung zusammendrängt und die ganze Welt als immer geschäftig darstellt, täuscht den Kenner nicht. Die heroischen Tugenden waren so wenig wie die tändelnden unsers Jahrhunderts der Langenweile allein gewachsen." In dem Geckenorden findet nun Möser den wichtigen Vorzug, daß er Maskenfreiheit gab und dem Einzelnen verstattete, aus sich herauszugehen. „Bei uns bringt man die Zeit bei Tisch wie im Staatskabinet zu und redet mit der Vorsicht eines Gesandten. Wie glücklich waren dagegen jene klugen Gecken, die ihren Orden anhängen und dann im Charakter ihrer Rolle mit allen durchlauchtigsten und hochgebornen Brüdern eine stumpfe Lanze brechen konnten." . „Aber das beste Mittel für das Frauenzimmer, um einer Gesellschaft den lebhaftesten Ton zu geben, war unstreitig, daß ein jedes seinen erklärten An¬ beter haben, daß jeder Dichter seiner Dame öffentlich sagen durfte, was er bei ihrem Anblick fühlte, und daß diese ihm in eben dem Ton antwortete. Jedes Auge mußte heitrer, jeder Mund beredter, jeder Einfall leichter sein als jetzt, wo der Mann seiner Frau garnichts, der Liebhaber aber seine Schmeicheleien nur heimlich sagen darf." Lessing waren die Möser'schen Anschauungen, wenigstens in der Theorie, äußerst sympathisch. Noch sechs Jahre später erklärt er, ihnen ganz beizu¬ treten. „Seitdem die Neuberin sud g.nsxieiis Sr. Magnificenz des Hrn. Prof. Gottsched den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben alle deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen, dieser Ver¬ bannung beizutreten geschienen: ich sage, geschienen; denn im Grund hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber den Narren be¬ halten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stückchen, in welchen Harlekin die Hauptperson war, aber Harlekin hieß bei ihr Hänschen, und'war ganz weiß, anstatt scheckig, gekleidet. Die Neuberin ist todt, Gottsched ist auch todt: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder an." Man denke sich den Hanswurst in die „Minna von Barnhelm" eingeschoben, und man wird sich überzeugen, daß Lessing hier wieder einmal über die Schnur hieb. Gerade das Realistische und Jndividualisirende in seiner Kunstrichtung schloß die blos typische Figur unbedingt aus. Im April 1761 schrieb Abbe an Möser „im Namen einer kleinen Berlinischen Gesellschaft" einen freundlichen Brief und zeigte den „Harlekin" in den „Literaturbriefen" an. Seitdem bestand zwischen ihnen ein lebhafter Verkehr. Im Grunde ging Möser's Richtung ganz gegen den Strich der Berliner: aber man ließ ihm, seiner anscheinenden Treuherzigkeit wegen, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/34
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/34>, abgerufen am 09.11.2024.