Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

schreiten; sie wagte sich an die kühnsten Probleme und behandelte sie mit
Geist. Diderot und Rousseau, Hume und Sterne erschütterten mit ihren Para-
doxieen die anscheinend festesten Begriffe der Aufklärung, und gerade indem sie
sich ihrer zu erwehren suchten, trugen die "Literaturbriefe" zu ihrer Ver¬
breitung bei.

Durch die "Literaturbriefe" wurde Berlin eine Macht in der Literatur,
gehaßt, aber auch gefürchtet und mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Was
man später Berlinerei nannte, schreibt sich ans dieser Zeit her.

Es waren Schriftsteller aus der Nähe und Ferne, die theils zu bleibendem
Aufenthalt, theils vorübergehend nach Berlin gekommen waren, die gemeinsame
Atmosphäre einsogen und in den gemeinsamen Ton einstimmten. Angelockt
waren sie theils durch die Duldung von oben, theils durch das muntere
geistige Leben der Stadt. Freilich that die Regierung wenig oder nichts, den
Einzelnen zu fördern; sie mußte mit Wappen Mitteln wirthschaften. Aber sie
fiel auch Niemand lästig, Jeder konnte "nach seiner Fa^on selig werden". Es gab
in Berlin keine Kräfte ersten Ranges, aber was da war, hielt in der großen
Stadt eng zusammen, viel enger als jemals in einer späteren Zeit. Jährlich
fand sich der eine oder andere Gast ein, aus Halle, Halberstadt, Leipzig, Ham¬
burg, und der briefliche Verkehr ging auf's lebhafteste bis nach Riga, Kopen¬
hagen und Zürich hin.

Eine wichtige Acquisition für die "Literaturbriefe" war Thomas Abbe,
damals 22 jährig, aus Ulm, der, ehe er eine Professur in Rinteln antrat, sich
einige Monate in Berlin aufhielt. Seine Abhandlung "Vom Tode für's
Vaterland" ließ Nicolai Anfang 1761 drucken; Gleim's Ausspruch "Berlin
sei Sparta!" wurde nun auch dem schöngeistigen Publikum eingeschärft. Es
war ein gedrungener und blühender Stil in dieser kleinen Schrift, und was
an Reife der Bildung fehlte, wurde durch einen ungewöhnlichen Bilderreichthum
ersetzt. Abbe hatte einen entschiedenen Sinn für Geschichte, der den Berlinern
fast ganz abging.

"Was nur den Namen Geschichte hat," schreibt Mendelssohn an Abbe,
"Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir
niemals in den Kopf wollen, und ich gähne allezeit, wenn ich etwas Historisches
lesen muß." Ausgeschlossen von dem wirklichen Leben der Völker, mußte der
Jude sich eben an Metaphysik halten.

Abbe war zu seiner Schrift durch des Schweizers Zimmermann Buch
"Ueber den Nationalstolz" angeregt. Mit den Schweizern blieben die Berliner
durch Sulzer in steter Verbindung. Hirzel, Sulzer's alter Freund, schrieb
damals über den Schweizer Bauer Klein Jogg seine "Wirthschaft eines
philosophischen Bauern", eine Schilderung der ländlichen Verrichtungen, die


schreiten; sie wagte sich an die kühnsten Probleme und behandelte sie mit
Geist. Diderot und Rousseau, Hume und Sterne erschütterten mit ihren Para-
doxieen die anscheinend festesten Begriffe der Aufklärung, und gerade indem sie
sich ihrer zu erwehren suchten, trugen die „Literaturbriefe" zu ihrer Ver¬
breitung bei.

Durch die „Literaturbriefe" wurde Berlin eine Macht in der Literatur,
gehaßt, aber auch gefürchtet und mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Was
man später Berlinerei nannte, schreibt sich ans dieser Zeit her.

Es waren Schriftsteller aus der Nähe und Ferne, die theils zu bleibendem
Aufenthalt, theils vorübergehend nach Berlin gekommen waren, die gemeinsame
Atmosphäre einsogen und in den gemeinsamen Ton einstimmten. Angelockt
waren sie theils durch die Duldung von oben, theils durch das muntere
geistige Leben der Stadt. Freilich that die Regierung wenig oder nichts, den
Einzelnen zu fördern; sie mußte mit Wappen Mitteln wirthschaften. Aber sie
fiel auch Niemand lästig, Jeder konnte „nach seiner Fa^on selig werden". Es gab
in Berlin keine Kräfte ersten Ranges, aber was da war, hielt in der großen
Stadt eng zusammen, viel enger als jemals in einer späteren Zeit. Jährlich
fand sich der eine oder andere Gast ein, aus Halle, Halberstadt, Leipzig, Ham¬
burg, und der briefliche Verkehr ging auf's lebhafteste bis nach Riga, Kopen¬
hagen und Zürich hin.

Eine wichtige Acquisition für die „Literaturbriefe" war Thomas Abbe,
damals 22 jährig, aus Ulm, der, ehe er eine Professur in Rinteln antrat, sich
einige Monate in Berlin aufhielt. Seine Abhandlung „Vom Tode für's
Vaterland" ließ Nicolai Anfang 1761 drucken; Gleim's Ausspruch „Berlin
sei Sparta!" wurde nun auch dem schöngeistigen Publikum eingeschärft. Es
war ein gedrungener und blühender Stil in dieser kleinen Schrift, und was
an Reife der Bildung fehlte, wurde durch einen ungewöhnlichen Bilderreichthum
ersetzt. Abbe hatte einen entschiedenen Sinn für Geschichte, der den Berlinern
fast ganz abging.

„Was nur den Namen Geschichte hat," schreibt Mendelssohn an Abbe,
„Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir
niemals in den Kopf wollen, und ich gähne allezeit, wenn ich etwas Historisches
lesen muß." Ausgeschlossen von dem wirklichen Leben der Völker, mußte der
Jude sich eben an Metaphysik halten.

Abbe war zu seiner Schrift durch des Schweizers Zimmermann Buch
„Ueber den Nationalstolz" angeregt. Mit den Schweizern blieben die Berliner
durch Sulzer in steter Verbindung. Hirzel, Sulzer's alter Freund, schrieb
damals über den Schweizer Bauer Klein Jogg seine „Wirthschaft eines
philosophischen Bauern", eine Schilderung der ländlichen Verrichtungen, die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142529"/>
          <p xml:id="ID_86" prev="#ID_85"> schreiten; sie wagte sich an die kühnsten Probleme und behandelte sie mit<lb/>
Geist. Diderot und Rousseau, Hume und Sterne erschütterten mit ihren Para-<lb/>
doxieen die anscheinend festesten Begriffe der Aufklärung, und gerade indem sie<lb/>
sich ihrer zu erwehren suchten, trugen die &#x201E;Literaturbriefe" zu ihrer Ver¬<lb/>
breitung bei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_87"> Durch die &#x201E;Literaturbriefe" wurde Berlin eine Macht in der Literatur,<lb/>
gehaßt, aber auch gefürchtet und mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Was<lb/>
man später Berlinerei nannte, schreibt sich ans dieser Zeit her.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_88"> Es waren Schriftsteller aus der Nähe und Ferne, die theils zu bleibendem<lb/>
Aufenthalt, theils vorübergehend nach Berlin gekommen waren, die gemeinsame<lb/>
Atmosphäre einsogen und in den gemeinsamen Ton einstimmten. Angelockt<lb/>
waren sie theils durch die Duldung von oben, theils durch das muntere<lb/>
geistige Leben der Stadt. Freilich that die Regierung wenig oder nichts, den<lb/>
Einzelnen zu fördern; sie mußte mit Wappen Mitteln wirthschaften. Aber sie<lb/>
fiel auch Niemand lästig, Jeder konnte &#x201E;nach seiner Fa^on selig werden". Es gab<lb/>
in Berlin keine Kräfte ersten Ranges, aber was da war, hielt in der großen<lb/>
Stadt eng zusammen, viel enger als jemals in einer späteren Zeit. Jährlich<lb/>
fand sich der eine oder andere Gast ein, aus Halle, Halberstadt, Leipzig, Ham¬<lb/>
burg, und der briefliche Verkehr ging auf's lebhafteste bis nach Riga, Kopen¬<lb/>
hagen und Zürich hin.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_89"> Eine wichtige Acquisition für die &#x201E;Literaturbriefe" war Thomas Abbe,<lb/>
damals 22 jährig, aus Ulm, der, ehe er eine Professur in Rinteln antrat, sich<lb/>
einige Monate in Berlin aufhielt. Seine Abhandlung &#x201E;Vom Tode für's<lb/>
Vaterland" ließ Nicolai Anfang 1761 drucken; Gleim's Ausspruch &#x201E;Berlin<lb/>
sei Sparta!" wurde nun auch dem schöngeistigen Publikum eingeschärft. Es<lb/>
war ein gedrungener und blühender Stil in dieser kleinen Schrift, und was<lb/>
an Reife der Bildung fehlte, wurde durch einen ungewöhnlichen Bilderreichthum<lb/>
ersetzt. Abbe hatte einen entschiedenen Sinn für Geschichte, der den Berlinern<lb/>
fast ganz abging.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_90"> &#x201E;Was nur den Namen Geschichte hat," schreibt Mendelssohn an Abbe,<lb/>
&#x201E;Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir<lb/>
niemals in den Kopf wollen, und ich gähne allezeit, wenn ich etwas Historisches<lb/>
lesen muß." Ausgeschlossen von dem wirklichen Leben der Völker, mußte der<lb/>
Jude sich eben an Metaphysik halten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_91" next="#ID_92"> Abbe war zu seiner Schrift durch des Schweizers Zimmermann Buch<lb/>
&#x201E;Ueber den Nationalstolz" angeregt. Mit den Schweizern blieben die Berliner<lb/>
durch Sulzer in steter Verbindung. Hirzel, Sulzer's alter Freund, schrieb<lb/>
damals über den Schweizer Bauer Klein Jogg seine &#x201E;Wirthschaft eines<lb/>
philosophischen Bauern", eine Schilderung der ländlichen Verrichtungen, die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] schreiten; sie wagte sich an die kühnsten Probleme und behandelte sie mit Geist. Diderot und Rousseau, Hume und Sterne erschütterten mit ihren Para- doxieen die anscheinend festesten Begriffe der Aufklärung, und gerade indem sie sich ihrer zu erwehren suchten, trugen die „Literaturbriefe" zu ihrer Ver¬ breitung bei. Durch die „Literaturbriefe" wurde Berlin eine Macht in der Literatur, gehaßt, aber auch gefürchtet und mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Was man später Berlinerei nannte, schreibt sich ans dieser Zeit her. Es waren Schriftsteller aus der Nähe und Ferne, die theils zu bleibendem Aufenthalt, theils vorübergehend nach Berlin gekommen waren, die gemeinsame Atmosphäre einsogen und in den gemeinsamen Ton einstimmten. Angelockt waren sie theils durch die Duldung von oben, theils durch das muntere geistige Leben der Stadt. Freilich that die Regierung wenig oder nichts, den Einzelnen zu fördern; sie mußte mit Wappen Mitteln wirthschaften. Aber sie fiel auch Niemand lästig, Jeder konnte „nach seiner Fa^on selig werden". Es gab in Berlin keine Kräfte ersten Ranges, aber was da war, hielt in der großen Stadt eng zusammen, viel enger als jemals in einer späteren Zeit. Jährlich fand sich der eine oder andere Gast ein, aus Halle, Halberstadt, Leipzig, Ham¬ burg, und der briefliche Verkehr ging auf's lebhafteste bis nach Riga, Kopen¬ hagen und Zürich hin. Eine wichtige Acquisition für die „Literaturbriefe" war Thomas Abbe, damals 22 jährig, aus Ulm, der, ehe er eine Professur in Rinteln antrat, sich einige Monate in Berlin aufhielt. Seine Abhandlung „Vom Tode für's Vaterland" ließ Nicolai Anfang 1761 drucken; Gleim's Ausspruch „Berlin sei Sparta!" wurde nun auch dem schöngeistigen Publikum eingeschärft. Es war ein gedrungener und blühender Stil in dieser kleinen Schrift, und was an Reife der Bildung fehlte, wurde durch einen ungewöhnlichen Bilderreichthum ersetzt. Abbe hatte einen entschiedenen Sinn für Geschichte, der den Berlinern fast ganz abging. „Was nur den Namen Geschichte hat," schreibt Mendelssohn an Abbe, „Naturgeschichte, Erdgeschichte, Staatsgeschichte, gelehrte Geschichte, hat mir niemals in den Kopf wollen, und ich gähne allezeit, wenn ich etwas Historisches lesen muß." Ausgeschlossen von dem wirklichen Leben der Völker, mußte der Jude sich eben an Metaphysik halten. Abbe war zu seiner Schrift durch des Schweizers Zimmermann Buch „Ueber den Nationalstolz" angeregt. Mit den Schweizern blieben die Berliner durch Sulzer in steter Verbindung. Hirzel, Sulzer's alter Freund, schrieb damals über den Schweizer Bauer Klein Jogg seine „Wirthschaft eines philosophischen Bauern", eine Schilderung der ländlichen Verrichtungen, die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/32>, abgerufen am 09.11.2024.