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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Schaft, diesen schönen, planvollen Bau des Dichters zerstören, die einzelnen
Bauglieder umordnen und hie und da neue Bausteine einflicken zu müssen; die
"Dichtung" freilich bläst man auf diese Weise aus dem Ganzen ihinaus, aber
damit auch die lebendige Einheit; was man an die Stelle zu setze" hat, ist ein
Mosaik, ein Aggregat, aber kein Organismus. Und doch kommt man um 'dieses
unerquickliche Geschäft nicht herum, wenn man die "Wahrheit" feststellen will;
denn es ist theils bestimmt nachweisbar, theils wenigstens zu vermuthen, daß
Goethe in seiner sozusagen zeitlosen Darstellung bald unabsichtlich, bald aber
auch absichtlich die Ereignisse in andrer Reihenfolge vorführt, als sie sich
zugetragen.

Die Hauptkontrole für Goethe's Erzählung über Lili bilden feine mit dem
26. Januar 1775 beginnenden Briefe an Auguste Stolberg, die zuerst 1839
veröffentlicht worden sind. So seltsam das überspannte platonische par-al8wuvö-
Verhältniß Goethe's zu dieser Dame, die er in seinem Leben nie gesehen, neben
der glühenden Leidenschaft für Lili herläuft, die aufgeregten Briefe, mit ihrer
entschieden etwas affektirten Athemlvfigkeit, die er während des Jahres 1775
an sie geschrieben hat, sind doch ein viel lebendigerer Spiegel seiner Liebe zu
Lili als die vorsichtig reservirte, gemessene und gezirkelte Darstellung des
70jährigen Dichters. Auf diesem doppelten Fundamente, der Selbstbiographie
und den Briefen an die Stolberg, hat denn auch Düntzer 1852 in seinen "Franen-
bildern aus Goethe's Jugendzeit" (S. 262- 405!) Goethe's Verhältniß zu Lili
und zu Auguste Stolberg mit einander verflochten geschildert, freilich, nach
feiner bekannten Art, zugleich as multis rsdus et qnidusclaw, Mis geschrieben;
das Ganze ist eigentlich nur eine Materialsammlung, und das Bild, das doch
enthüllt und gezeigt werden soll, wird vielmehr unter einem Haufen von Schutt
begraben. In der folgenden Zeit ist diese Matenalsammlung mannigfach ver¬
mehrt worden. 1857 hat C. Jügel in seinem "Puppenhans" interessante Mitthei¬
lungen über Lili gemacht, 1869 wurde zuerst -- in diesen Blättern -- der
merkwürdige Bericht der Frau v. Egloffstein über angebliche Bekenntnisse Lili's
aus dem Jahre 1794 veröffentlicht, 1875 folgten die Briefe Goethe's an Johanna
Fahlmer und vor kurzem die an Sophie von La Roche, in denen beiden die
Goethe-Lili-Affaire wiederholt ihr Echo findet, und hierzu kommt nun als neuester
Beitrag das Buch des Grafen Dürckheim. Daneben müssen natürlich, wie für
alle Goethischen Erlebnisse, so anch für die vorliegenden, feine gleichzeitigen
Dichtungen als Quelle gelten. Von solchen kommen hier in erster Linie die
Lieder in Betracht, die dem Verhältniß zu Lili entsprungen find. Aber auch
die dramatischen Arbeiten jener Zeit, namentlich "Erwin und Elmire" und
"Stella", darf keiner ungelesen lassen, der vollständig in Ton und Stimmung
jener bewegten Tage sich versetzen will, wenn sie ihm auch nicht gerade konkrete


Schaft, diesen schönen, planvollen Bau des Dichters zerstören, die einzelnen
Bauglieder umordnen und hie und da neue Bausteine einflicken zu müssen; die
„Dichtung" freilich bläst man auf diese Weise aus dem Ganzen ihinaus, aber
damit auch die lebendige Einheit; was man an die Stelle zu setze» hat, ist ein
Mosaik, ein Aggregat, aber kein Organismus. Und doch kommt man um 'dieses
unerquickliche Geschäft nicht herum, wenn man die „Wahrheit" feststellen will;
denn es ist theils bestimmt nachweisbar, theils wenigstens zu vermuthen, daß
Goethe in seiner sozusagen zeitlosen Darstellung bald unabsichtlich, bald aber
auch absichtlich die Ereignisse in andrer Reihenfolge vorführt, als sie sich
zugetragen.

Die Hauptkontrole für Goethe's Erzählung über Lili bilden feine mit dem
26. Januar 1775 beginnenden Briefe an Auguste Stolberg, die zuerst 1839
veröffentlicht worden sind. So seltsam das überspannte platonische par-al8wuvö-
Verhältniß Goethe's zu dieser Dame, die er in seinem Leben nie gesehen, neben
der glühenden Leidenschaft für Lili herläuft, die aufgeregten Briefe, mit ihrer
entschieden etwas affektirten Athemlvfigkeit, die er während des Jahres 1775
an sie geschrieben hat, sind doch ein viel lebendigerer Spiegel seiner Liebe zu
Lili als die vorsichtig reservirte, gemessene und gezirkelte Darstellung des
70jährigen Dichters. Auf diesem doppelten Fundamente, der Selbstbiographie
und den Briefen an die Stolberg, hat denn auch Düntzer 1852 in seinen „Franen-
bildern aus Goethe's Jugendzeit" (S. 262- 405!) Goethe's Verhältniß zu Lili
und zu Auguste Stolberg mit einander verflochten geschildert, freilich, nach
feiner bekannten Art, zugleich as multis rsdus et qnidusclaw, Mis geschrieben;
das Ganze ist eigentlich nur eine Materialsammlung, und das Bild, das doch
enthüllt und gezeigt werden soll, wird vielmehr unter einem Haufen von Schutt
begraben. In der folgenden Zeit ist diese Matenalsammlung mannigfach ver¬
mehrt worden. 1857 hat C. Jügel in seinem „Puppenhans" interessante Mitthei¬
lungen über Lili gemacht, 1869 wurde zuerst — in diesen Blättern — der
merkwürdige Bericht der Frau v. Egloffstein über angebliche Bekenntnisse Lili's
aus dem Jahre 1794 veröffentlicht, 1875 folgten die Briefe Goethe's an Johanna
Fahlmer und vor kurzem die an Sophie von La Roche, in denen beiden die
Goethe-Lili-Affaire wiederholt ihr Echo findet, und hierzu kommt nun als neuester
Beitrag das Buch des Grafen Dürckheim. Daneben müssen natürlich, wie für
alle Goethischen Erlebnisse, so anch für die vorliegenden, feine gleichzeitigen
Dichtungen als Quelle gelten. Von solchen kommen hier in erster Linie die
Lieder in Betracht, die dem Verhältniß zu Lili entsprungen find. Aber auch
die dramatischen Arbeiten jener Zeit, namentlich „Erwin und Elmire" und
„Stella", darf keiner ungelesen lassen, der vollständig in Ton und Stimmung
jener bewegten Tage sich versetzen will, wenn sie ihm auch nicht gerade konkrete


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[0314] Schaft, diesen schönen, planvollen Bau des Dichters zerstören, die einzelnen Bauglieder umordnen und hie und da neue Bausteine einflicken zu müssen; die „Dichtung" freilich bläst man auf diese Weise aus dem Ganzen ihinaus, aber damit auch die lebendige Einheit; was man an die Stelle zu setze» hat, ist ein Mosaik, ein Aggregat, aber kein Organismus. Und doch kommt man um 'dieses unerquickliche Geschäft nicht herum, wenn man die „Wahrheit" feststellen will; denn es ist theils bestimmt nachweisbar, theils wenigstens zu vermuthen, daß Goethe in seiner sozusagen zeitlosen Darstellung bald unabsichtlich, bald aber auch absichtlich die Ereignisse in andrer Reihenfolge vorführt, als sie sich zugetragen. Die Hauptkontrole für Goethe's Erzählung über Lili bilden feine mit dem 26. Januar 1775 beginnenden Briefe an Auguste Stolberg, die zuerst 1839 veröffentlicht worden sind. So seltsam das überspannte platonische par-al8wuvö- Verhältniß Goethe's zu dieser Dame, die er in seinem Leben nie gesehen, neben der glühenden Leidenschaft für Lili herläuft, die aufgeregten Briefe, mit ihrer entschieden etwas affektirten Athemlvfigkeit, die er während des Jahres 1775 an sie geschrieben hat, sind doch ein viel lebendigerer Spiegel seiner Liebe zu Lili als die vorsichtig reservirte, gemessene und gezirkelte Darstellung des 70jährigen Dichters. Auf diesem doppelten Fundamente, der Selbstbiographie und den Briefen an die Stolberg, hat denn auch Düntzer 1852 in seinen „Franen- bildern aus Goethe's Jugendzeit" (S. 262- 405!) Goethe's Verhältniß zu Lili und zu Auguste Stolberg mit einander verflochten geschildert, freilich, nach feiner bekannten Art, zugleich as multis rsdus et qnidusclaw, Mis geschrieben; das Ganze ist eigentlich nur eine Materialsammlung, und das Bild, das doch enthüllt und gezeigt werden soll, wird vielmehr unter einem Haufen von Schutt begraben. In der folgenden Zeit ist diese Matenalsammlung mannigfach ver¬ mehrt worden. 1857 hat C. Jügel in seinem „Puppenhans" interessante Mitthei¬ lungen über Lili gemacht, 1869 wurde zuerst — in diesen Blättern — der merkwürdige Bericht der Frau v. Egloffstein über angebliche Bekenntnisse Lili's aus dem Jahre 1794 veröffentlicht, 1875 folgten die Briefe Goethe's an Johanna Fahlmer und vor kurzem die an Sophie von La Roche, in denen beiden die Goethe-Lili-Affaire wiederholt ihr Echo findet, und hierzu kommt nun als neuester Beitrag das Buch des Grafen Dürckheim. Daneben müssen natürlich, wie für alle Goethischen Erlebnisse, so anch für die vorliegenden, feine gleichzeitigen Dichtungen als Quelle gelten. Von solchen kommen hier in erster Linie die Lieder in Betracht, die dem Verhältniß zu Lili entsprungen find. Aber auch die dramatischen Arbeiten jener Zeit, namentlich „Erwin und Elmire" und „Stella", darf keiner ungelesen lassen, der vollständig in Ton und Stimmung jener bewegten Tage sich versetzen will, wenn sie ihm auch nicht gerade konkrete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/314>, abgerufen am 27.11.2024.