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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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einem Fremden im Zimmer die Ohren klingen. Und mit dieser Predigt ge¬
denken Sie die wilden Ziegelbrenner zu einem starken, glücklichen und ruhigen
Volk zu bilden? -- O mein werthester Herr Vicar! Ihre natürliche Religion
ist gut, aber nicht hinlänglich."

"Sie werden sagen, solchergestalt sei die Religion nur ein Kappzaum für
den Pöbel. Darauf antworte ich Ihnen jetzt nichts als: wir alle sind Pöbel!
Für uns Pöbel, und nicht für Engel ist unsre Religion gemacht."

"Was ist der Mensch? Ein Thier, das an der Kette seiner Einbildung
liegen soll. Etliche brauchen einen Klotz von fünf Centnern, um nicht mit der
Kette wegzulaufen. ... Es ist ein hartnäckiges Volk, beides der Philosoph
und der Mensch: fünf Centner halten sie nicht!"

"Keine Religion darf auf bloßen Vernunftschlüssen beruhen: denn das kann
nicht geschehen, ohne eines jeden Menschen Vernunft zum Richter zu machen."

"Es ist ein besonderer Hang des Menschen zum Wunderbaren, welcher
oft auch dem Philosophen das Bekenntniß abpreßt: wir wissen noch nicht alles.
Viele schämen sich nur, offen zu gestehn, was sie sich heimlich selbst beichten.
Sollte dieser Hang nicht eine höhere Ursache haben?"

"Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten einen Knorpel im Gehirn, der
sich blos durch mathematische Beweise behandeln ließe: sollten wir dann wohl
diese zärtlichen und leichtgläubigen Empfindungen haben, die soviel zu unsrer
Wollust beitragen? Entweder wir müßten alles bis auf den Grund einsehn
können -- und diese Forderung ist ungereimt; oder wir sind glücklich, daß
wir uns leichter und sanfter beruhigen lassen. Freilich ist dieser Hang sehr
bequem, den Aberglauben zu unterstützen; aber die natürliche Liebe, die Güte,
die Großmuth sind ebenso sehr zu mißleiten: Sie wissen es, und haben
sie nicht verflucht. -- O der Mensch ist ein allerliebstes, wunderliches Ding!
der Herr und der Narr aller seiner Mitgeschöpfe!"

"Nunmehr erwarten Sie vielleicht, daß ich die Wahrheit unsrer christ¬
lichen Religion zu vertheidigen unternehme. Allein hier muß ich Ihnen gestehn,
daß ich kein Theolog, sondern ein Rechtsgelehrter bin. Ich habe meine Be¬
trachtungen blos so entworfen, wie ich glaube, daß ein unparteiischer Mann,
der von unsrer Religion nur etwas versteht, sie entwerfen könnte. Ich habe
die Bedürfnisse einiger Arten von menschlichen Gesellschaften und ihre Zufälle
eingesehn; ich habe die Krankheiten dieser großen Staatsvereinigungen, sie
mögen Monarchien, Aristokratien, Demokratien oder Tyrannien heißen, erwogen,
und daraus geschlossen, daß ihnen eine offenbarte Religion jederzeit nothwendig
und heilsam gewesen. Hierncichst habe ich gefunden, daß die christliche Religion
zu allen Absichten, welche eine Gottheit mit den Menschen haben kann, aus-


einem Fremden im Zimmer die Ohren klingen. Und mit dieser Predigt ge¬
denken Sie die wilden Ziegelbrenner zu einem starken, glücklichen und ruhigen
Volk zu bilden? — O mein werthester Herr Vicar! Ihre natürliche Religion
ist gut, aber nicht hinlänglich."

„Sie werden sagen, solchergestalt sei die Religion nur ein Kappzaum für
den Pöbel. Darauf antworte ich Ihnen jetzt nichts als: wir alle sind Pöbel!
Für uns Pöbel, und nicht für Engel ist unsre Religion gemacht."

„Was ist der Mensch? Ein Thier, das an der Kette seiner Einbildung
liegen soll. Etliche brauchen einen Klotz von fünf Centnern, um nicht mit der
Kette wegzulaufen. ... Es ist ein hartnäckiges Volk, beides der Philosoph
und der Mensch: fünf Centner halten sie nicht!"

„Keine Religion darf auf bloßen Vernunftschlüssen beruhen: denn das kann
nicht geschehen, ohne eines jeden Menschen Vernunft zum Richter zu machen."

„Es ist ein besonderer Hang des Menschen zum Wunderbaren, welcher
oft auch dem Philosophen das Bekenntniß abpreßt: wir wissen noch nicht alles.
Viele schämen sich nur, offen zu gestehn, was sie sich heimlich selbst beichten.
Sollte dieser Hang nicht eine höhere Ursache haben?"

„Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten einen Knorpel im Gehirn, der
sich blos durch mathematische Beweise behandeln ließe: sollten wir dann wohl
diese zärtlichen und leichtgläubigen Empfindungen haben, die soviel zu unsrer
Wollust beitragen? Entweder wir müßten alles bis auf den Grund einsehn
können — und diese Forderung ist ungereimt; oder wir sind glücklich, daß
wir uns leichter und sanfter beruhigen lassen. Freilich ist dieser Hang sehr
bequem, den Aberglauben zu unterstützen; aber die natürliche Liebe, die Güte,
die Großmuth sind ebenso sehr zu mißleiten: Sie wissen es, und haben
sie nicht verflucht. — O der Mensch ist ein allerliebstes, wunderliches Ding!
der Herr und der Narr aller seiner Mitgeschöpfe!"

„Nunmehr erwarten Sie vielleicht, daß ich die Wahrheit unsrer christ¬
lichen Religion zu vertheidigen unternehme. Allein hier muß ich Ihnen gestehn,
daß ich kein Theolog, sondern ein Rechtsgelehrter bin. Ich habe meine Be¬
trachtungen blos so entworfen, wie ich glaube, daß ein unparteiischer Mann,
der von unsrer Religion nur etwas versteht, sie entwerfen könnte. Ich habe
die Bedürfnisse einiger Arten von menschlichen Gesellschaften und ihre Zufälle
eingesehn; ich habe die Krankheiten dieser großen Staatsvereinigungen, sie
mögen Monarchien, Aristokratien, Demokratien oder Tyrannien heißen, erwogen,
und daraus geschlossen, daß ihnen eine offenbarte Religion jederzeit nothwendig
und heilsam gewesen. Hierncichst habe ich gefunden, daß die christliche Religion
zu allen Absichten, welche eine Gottheit mit den Menschen haben kann, aus-


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[0273] einem Fremden im Zimmer die Ohren klingen. Und mit dieser Predigt ge¬ denken Sie die wilden Ziegelbrenner zu einem starken, glücklichen und ruhigen Volk zu bilden? — O mein werthester Herr Vicar! Ihre natürliche Religion ist gut, aber nicht hinlänglich." „Sie werden sagen, solchergestalt sei die Religion nur ein Kappzaum für den Pöbel. Darauf antworte ich Ihnen jetzt nichts als: wir alle sind Pöbel! Für uns Pöbel, und nicht für Engel ist unsre Religion gemacht." „Was ist der Mensch? Ein Thier, das an der Kette seiner Einbildung liegen soll. Etliche brauchen einen Klotz von fünf Centnern, um nicht mit der Kette wegzulaufen. ... Es ist ein hartnäckiges Volk, beides der Philosoph und der Mensch: fünf Centner halten sie nicht!" „Keine Religion darf auf bloßen Vernunftschlüssen beruhen: denn das kann nicht geschehen, ohne eines jeden Menschen Vernunft zum Richter zu machen." „Es ist ein besonderer Hang des Menschen zum Wunderbaren, welcher oft auch dem Philosophen das Bekenntniß abpreßt: wir wissen noch nicht alles. Viele schämen sich nur, offen zu gestehn, was sie sich heimlich selbst beichten. Sollte dieser Hang nicht eine höhere Ursache haben?" „Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten einen Knorpel im Gehirn, der sich blos durch mathematische Beweise behandeln ließe: sollten wir dann wohl diese zärtlichen und leichtgläubigen Empfindungen haben, die soviel zu unsrer Wollust beitragen? Entweder wir müßten alles bis auf den Grund einsehn können — und diese Forderung ist ungereimt; oder wir sind glücklich, daß wir uns leichter und sanfter beruhigen lassen. Freilich ist dieser Hang sehr bequem, den Aberglauben zu unterstützen; aber die natürliche Liebe, die Güte, die Großmuth sind ebenso sehr zu mißleiten: Sie wissen es, und haben sie nicht verflucht. — O der Mensch ist ein allerliebstes, wunderliches Ding! der Herr und der Narr aller seiner Mitgeschöpfe!" „Nunmehr erwarten Sie vielleicht, daß ich die Wahrheit unsrer christ¬ lichen Religion zu vertheidigen unternehme. Allein hier muß ich Ihnen gestehn, daß ich kein Theolog, sondern ein Rechtsgelehrter bin. Ich habe meine Be¬ trachtungen blos so entworfen, wie ich glaube, daß ein unparteiischer Mann, der von unsrer Religion nur etwas versteht, sie entwerfen könnte. Ich habe die Bedürfnisse einiger Arten von menschlichen Gesellschaften und ihre Zufälle eingesehn; ich habe die Krankheiten dieser großen Staatsvereinigungen, sie mögen Monarchien, Aristokratien, Demokratien oder Tyrannien heißen, erwogen, und daraus geschlossen, daß ihnen eine offenbarte Religion jederzeit nothwendig und heilsam gewesen. Hierncichst habe ich gefunden, daß die christliche Religion zu allen Absichten, welche eine Gottheit mit den Menschen haben kann, aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/273>, abgerufen am 23.11.2024.