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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Zeitgemäßes aus einer Lutljerschrist.

Die bahnbrechende Kulturbedeutung von Luther's Reformation wird auch
von denen, welche mit der Kirche der Reformation sehr wenig mehr zu thun
haben, fast einstimmig anerkannt. Aber man sucht sie doch weit mehr in der
Abschüttelung des römischen Bleigewichts, welches den jugendlichen Aufschwung
des modernen Lebens und Strebens hemmte, also mehr in der negativen Vor¬
arbeit, als in fruchtbaren, positiven und greifbaren Verbesserungs - Vorschlägen
und -Maßregeln. Was weiß man überhaupt gemeinhin, anch in gebildeten
Kreisen, von dem großen Volksmanne, abgesehen von den wichtigsten That¬
sachen seines äußeren Lebens, einigen Schrifttiteln, seiner Bibelübersetzung,
seinem kleinen Katechismus und einigen wuchtigen Gesangbuchsliedern? Etwa
noch, daß die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein, für die
man heutzutage meist kein rechtes Verständniß mehr hat, der Angelpunkt seines
Denkens und der Trost seines Lebens war, daß er übrigens in seiner Sturm¬
und Drangperiode manche kühne Aeußerung auch über biblische Schriften ge¬
than hat, daß er ferner ein tiefgemüthlicher Familienvater und ein Mensch
von lebensfroher Geselligkeit und kernigem Humor gewesen ist, daß er dagegen
in politischen Fragen nie eine rechte Sicherheit gewonnen, sich diese daher mög¬
lichst vom Leibe gehalten, und als er doch einmal tiefer in eine verwickelt
wurde -- bei Gelegenheit des Bauernkriegs --, sich ziemlich unpraktisch be¬
nommen und es mit beiden Parteien verdorben hat.

Viel weniger bekannt ist es, daß Luther nicht blos die sittlichen, sondern
auch die sozialen Uebelstände, die mit jenen wie mit den kirchlichen Mißver¬
hältnissen ja eng verbunden waren, ziemlich scharf in's Auge gefaßt und in
ihrer Beurtheilung und seinen Verbesserungs-Vorschlägen oft genug den Nagel
auf den Kopf getroffen hat. Dies bezeugt namentlich die prächtige Schrift
des Jahres 1520 "An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen
Standes Besserung", gewiß eine der praktischsten, die er geschrieben.*) Die



Wir machen bei dieser Gelegenheit aufmerksam auf die treffliche zweibändige Aus¬
wahl aus Luther's Schriften, die unter dem Titel: Martin Luther als deutscher
Klassiker bei Heyder Ä Zimmer in Frankfurt a. M. erschienen ist.
Grenzboten III, 1879. 23
Zeitgemäßes aus einer Lutljerschrist.

Die bahnbrechende Kulturbedeutung von Luther's Reformation wird auch
von denen, welche mit der Kirche der Reformation sehr wenig mehr zu thun
haben, fast einstimmig anerkannt. Aber man sucht sie doch weit mehr in der
Abschüttelung des römischen Bleigewichts, welches den jugendlichen Aufschwung
des modernen Lebens und Strebens hemmte, also mehr in der negativen Vor¬
arbeit, als in fruchtbaren, positiven und greifbaren Verbesserungs - Vorschlägen
und -Maßregeln. Was weiß man überhaupt gemeinhin, anch in gebildeten
Kreisen, von dem großen Volksmanne, abgesehen von den wichtigsten That¬
sachen seines äußeren Lebens, einigen Schrifttiteln, seiner Bibelübersetzung,
seinem kleinen Katechismus und einigen wuchtigen Gesangbuchsliedern? Etwa
noch, daß die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein, für die
man heutzutage meist kein rechtes Verständniß mehr hat, der Angelpunkt seines
Denkens und der Trost seines Lebens war, daß er übrigens in seiner Sturm¬
und Drangperiode manche kühne Aeußerung auch über biblische Schriften ge¬
than hat, daß er ferner ein tiefgemüthlicher Familienvater und ein Mensch
von lebensfroher Geselligkeit und kernigem Humor gewesen ist, daß er dagegen
in politischen Fragen nie eine rechte Sicherheit gewonnen, sich diese daher mög¬
lichst vom Leibe gehalten, und als er doch einmal tiefer in eine verwickelt
wurde — bei Gelegenheit des Bauernkriegs —, sich ziemlich unpraktisch be¬
nommen und es mit beiden Parteien verdorben hat.

Viel weniger bekannt ist es, daß Luther nicht blos die sittlichen, sondern
auch die sozialen Uebelstände, die mit jenen wie mit den kirchlichen Mißver¬
hältnissen ja eng verbunden waren, ziemlich scharf in's Auge gefaßt und in
ihrer Beurtheilung und seinen Verbesserungs-Vorschlägen oft genug den Nagel
auf den Kopf getroffen hat. Dies bezeugt namentlich die prächtige Schrift
des Jahres 1520 „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen
Standes Besserung", gewiß eine der praktischsten, die er geschrieben.*) Die



Wir machen bei dieser Gelegenheit aufmerksam auf die treffliche zweibändige Aus¬
wahl aus Luther's Schriften, die unter dem Titel: Martin Luther als deutscher
Klassiker bei Heyder Ä Zimmer in Frankfurt a. M. erschienen ist.
Grenzboten III, 1879. 23
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[0219] Zeitgemäßes aus einer Lutljerschrist. Die bahnbrechende Kulturbedeutung von Luther's Reformation wird auch von denen, welche mit der Kirche der Reformation sehr wenig mehr zu thun haben, fast einstimmig anerkannt. Aber man sucht sie doch weit mehr in der Abschüttelung des römischen Bleigewichts, welches den jugendlichen Aufschwung des modernen Lebens und Strebens hemmte, also mehr in der negativen Vor¬ arbeit, als in fruchtbaren, positiven und greifbaren Verbesserungs - Vorschlägen und -Maßregeln. Was weiß man überhaupt gemeinhin, anch in gebildeten Kreisen, von dem großen Volksmanne, abgesehen von den wichtigsten That¬ sachen seines äußeren Lebens, einigen Schrifttiteln, seiner Bibelübersetzung, seinem kleinen Katechismus und einigen wuchtigen Gesangbuchsliedern? Etwa noch, daß die Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein, für die man heutzutage meist kein rechtes Verständniß mehr hat, der Angelpunkt seines Denkens und der Trost seines Lebens war, daß er übrigens in seiner Sturm¬ und Drangperiode manche kühne Aeußerung auch über biblische Schriften ge¬ than hat, daß er ferner ein tiefgemüthlicher Familienvater und ein Mensch von lebensfroher Geselligkeit und kernigem Humor gewesen ist, daß er dagegen in politischen Fragen nie eine rechte Sicherheit gewonnen, sich diese daher mög¬ lichst vom Leibe gehalten, und als er doch einmal tiefer in eine verwickelt wurde — bei Gelegenheit des Bauernkriegs —, sich ziemlich unpraktisch be¬ nommen und es mit beiden Parteien verdorben hat. Viel weniger bekannt ist es, daß Luther nicht blos die sittlichen, sondern auch die sozialen Uebelstände, die mit jenen wie mit den kirchlichen Mißver¬ hältnissen ja eng verbunden waren, ziemlich scharf in's Auge gefaßt und in ihrer Beurtheilung und seinen Verbesserungs-Vorschlägen oft genug den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Dies bezeugt namentlich die prächtige Schrift des Jahres 1520 „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung", gewiß eine der praktischsten, die er geschrieben.*) Die Wir machen bei dieser Gelegenheit aufmerksam auf die treffliche zweibändige Aus¬ wahl aus Luther's Schriften, die unter dem Titel: Martin Luther als deutscher Klassiker bei Heyder Ä Zimmer in Frankfurt a. M. erschienen ist. Grenzboten III, 1879. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/219>, abgerufen am 27.11.2024.