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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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so in der Nation Und im öffentlichen Thun, wie im Einzelnen und seinen ein¬
geschränkteren Strebenswegen. Rasch, unabwendbar, mit unerbittlicher Logik,
drängen sich die bis dahin zurückgeschobenen, noch unerledigten Aufgaben heran;
gerade von der Höhe des Erreichten herab und im Lichte seiner Lust fällt ein
geschärfter Blick auf die zurückgebliebenen Uebel und Schwächen und macht
ihren Kontrast fühlbarer als jemals. Ja, es brechen Wunden auf, deren Da¬
sein kaum geahnt wurde; tiefe Gruudgebrecheu der Menschennatur und unheil¬
volle Gewalten werden sichtbar, die jetzt als unüberwindlich erscheinen wollen,
nachdem die Nation alle Stadien der Geisteskultur und Kraftentfaltung durch¬
lief, ohne sie zu überwinden. Die Verstimmung erneut sich, aber gefährlicher
als vorher. Denn es sind jetzt nicht mehr nur die Nachwirkungen alter Ideale,
die zum Weltschmerz ausschlagen; es ist das realistische Wollen des Zeitalters
selbst, das in Verbitterungen sich eingräbt. Und jetzt fehlen ihm die Trö¬
stungen, die eine frühere Zeit in einer Welt dichterischer Phantasiegebilde und
lyrischer Stimmungen, in Poesie, Musik und aller schönen Kunst, in gefühlvoller
Lebenserfassung, in hochfliegenden philosophischen Gedanken und ihrer wiederum
künstlerisch geistvollen Aussprache, oder in der Nährung frommen Sinnes und
religiöser Anschauungen gefunden. Denn der Gegenschlag unserer realistischen
Tendenzen gegen alle diese Herrlichkeiten der Geisteswelt mußte etwas stark
wirken, um seinen Zweck zu erreichen, und vieles dadurch Zerstörte oder doch
Zurückgedrängte haben wir Mühe, neu zu beleben. So fehlt denn leider auch
jetzt noch dem verzagten Herzen keineswegs der Stoff zum Pessimismus: ja
der Pessimismus erscheint von Neuem als die Kulturkraukheit der Zeit, die ihre
bedeutsamsten Krisen begleitet.

Hartmann's Schriften und Lehren besitzen alle Eigenschaften, um dem
spezifisch modernen Sinne, wo er zum Pessimismus neigt, annehmlich zu sein.
Der Pessimismus, der die gegebene Wirklichkeit bekämpft und verurtheilt, haßt
und flieht, wird jederzeit sein Rüstzeug in den Anschauungen des Idealismus
suchen: so der Schopenhauer'sche, so der Hartmann's. Gern folgt ihm die
stimmungsverwandte Zeitgenossenschaft, wenn er im Uebrigen nur ihre Sprache
redet, in eine sonst als veraltet angesehene Ideenwelt. Diese gewünschte Ein¬
kleidung alter Gedanken in moderne Gewandung hoben wir bei Schopenhauer
in Bezug auf die Tage seines höchsten Ansehens hervor; Hartmann zeigt uus im
gleichen Maße für unsere Tage das angemessenste Kostüm, realistischer in Ansicht
der Dinge und Umfassung im Vergleich zu Schopenhauer, wie unser Jahrzehnt
weit über das vorige hinaus ist in der Entfernung vom Fichte'schen Ich-
Traum, von indischer Beschaulichkeit und von Abtödtung des thatlustigen
Willens durch Musik und Kunstschau, diesen drei Elementen der Schopen-
hauer'schen Weltflucht. Keine Rede mehr bei Hartmann von einer täuschenden


so in der Nation Und im öffentlichen Thun, wie im Einzelnen und seinen ein¬
geschränkteren Strebenswegen. Rasch, unabwendbar, mit unerbittlicher Logik,
drängen sich die bis dahin zurückgeschobenen, noch unerledigten Aufgaben heran;
gerade von der Höhe des Erreichten herab und im Lichte seiner Lust fällt ein
geschärfter Blick auf die zurückgebliebenen Uebel und Schwächen und macht
ihren Kontrast fühlbarer als jemals. Ja, es brechen Wunden auf, deren Da¬
sein kaum geahnt wurde; tiefe Gruudgebrecheu der Menschennatur und unheil¬
volle Gewalten werden sichtbar, die jetzt als unüberwindlich erscheinen wollen,
nachdem die Nation alle Stadien der Geisteskultur und Kraftentfaltung durch¬
lief, ohne sie zu überwinden. Die Verstimmung erneut sich, aber gefährlicher
als vorher. Denn es sind jetzt nicht mehr nur die Nachwirkungen alter Ideale,
die zum Weltschmerz ausschlagen; es ist das realistische Wollen des Zeitalters
selbst, das in Verbitterungen sich eingräbt. Und jetzt fehlen ihm die Trö¬
stungen, die eine frühere Zeit in einer Welt dichterischer Phantasiegebilde und
lyrischer Stimmungen, in Poesie, Musik und aller schönen Kunst, in gefühlvoller
Lebenserfassung, in hochfliegenden philosophischen Gedanken und ihrer wiederum
künstlerisch geistvollen Aussprache, oder in der Nährung frommen Sinnes und
religiöser Anschauungen gefunden. Denn der Gegenschlag unserer realistischen
Tendenzen gegen alle diese Herrlichkeiten der Geisteswelt mußte etwas stark
wirken, um seinen Zweck zu erreichen, und vieles dadurch Zerstörte oder doch
Zurückgedrängte haben wir Mühe, neu zu beleben. So fehlt denn leider auch
jetzt noch dem verzagten Herzen keineswegs der Stoff zum Pessimismus: ja
der Pessimismus erscheint von Neuem als die Kulturkraukheit der Zeit, die ihre
bedeutsamsten Krisen begleitet.

Hartmann's Schriften und Lehren besitzen alle Eigenschaften, um dem
spezifisch modernen Sinne, wo er zum Pessimismus neigt, annehmlich zu sein.
Der Pessimismus, der die gegebene Wirklichkeit bekämpft und verurtheilt, haßt
und flieht, wird jederzeit sein Rüstzeug in den Anschauungen des Idealismus
suchen: so der Schopenhauer'sche, so der Hartmann's. Gern folgt ihm die
stimmungsverwandte Zeitgenossenschaft, wenn er im Uebrigen nur ihre Sprache
redet, in eine sonst als veraltet angesehene Ideenwelt. Diese gewünschte Ein¬
kleidung alter Gedanken in moderne Gewandung hoben wir bei Schopenhauer
in Bezug auf die Tage seines höchsten Ansehens hervor; Hartmann zeigt uus im
gleichen Maße für unsere Tage das angemessenste Kostüm, realistischer in Ansicht
der Dinge und Umfassung im Vergleich zu Schopenhauer, wie unser Jahrzehnt
weit über das vorige hinaus ist in der Entfernung vom Fichte'schen Ich-
Traum, von indischer Beschaulichkeit und von Abtödtung des thatlustigen
Willens durch Musik und Kunstschau, diesen drei Elementen der Schopen-
hauer'schen Weltflucht. Keine Rede mehr bei Hartmann von einer täuschenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/99>, abgerufen am 28.09.2024.