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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Was versteht man unter dem Ausdrucke "Rechtsstaat"? Vähr, der
neueste wissenschaftliche Vertreter der hier berührten Idee, antwortet: eine
solche Gestaltung der Genossenschaft der Nation, in welcher dieselbe das Recht
zur Grundbedingung ihres Daseins erhoben hat, und alles in ihr sich regende
Leben, das der Individuen sowohl wie das der Gesammtheit, unbeschadet der
für dasselbe nöthigen Freiheit sich um die Grundangeln des Rechtes bewegt.
Der ideale Staat ist ihm "der juristisch entwickelte Begriff für die Genossen¬
schaft der Nation". Das ganze Streben der Neuzeit sei, meint er, von dem
Begehren durchdrungen, "daß der Staatsbegriff die Stellung der Obrigkeit in
dieser Gemeinschaft nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich beherrsche".

Nun ist das Recht gewiß eine der Grundlagen der Volksgemeinde, aber
nicht die einzige. Wo Alles im Staate sich "um die Grundangeln des Rechtes
bewegte", wäre dieses nicht, wie Held sehr richtig bemerkt, der weite Rahmen
des äußeren Lebens, innerhalb dessen eine freie und mannichfaltige Bewegung
zulässig sein würde, sondern "der spanische Stiefel, der jede Bewegung schon
im Voraus mit unerbittlicher Strenge einzwängte und allerdings ein Minderes
als die Erfüllung der Rechtsforderung nicht gestattete, aber auch ein Mehreres
nicht zuließe". Wenn die höchste obrigkeitliche Persönlichkeit, der Souverän,
die Pflichten seiner Stellung als Rechtspflichten anzusehen hat, er aber für die
Erfüllung derselben nie rechtlich verantwortlich gemacht werden kann, so werden
wenigstens bei ihm das rechtliche und das moralische Beherrschtwerden sich
kaum scheiden lassen. Und was soll geschehen, wenn die moralischen Elemente
des Staatsbegriffes, der die Stellung der Obrigkeit beherrscht, mit den recht¬
lichen in Kollision gerathen, oder wenn unter außerordentlichen Umständen die
Beherrschung der Obrigkeit durch das vorhandene Recht wegen dessen Unzu¬
länglichkeit unmöglich ist? Diese Fragen erledigt man nicht, wenn man Rechts¬
pflege und Regierung trennt, der ersteren die Handhabung der Gesetze, der
letzteren eine freie Thätigkeit innerhalb der Schranken des Rechtes anweist und
die Verwaltung wegen ihrer Stellung zum Gesetze einer Rechtsprechung unter¬
wirft, ihre Trennung von der Justiz äußerlich nach Möglichkeit durchführt
und auch für die verfassungsmäßigen politischen Berechtigungen der Staats¬
bürger, d. h. für die den letzteren zur Erfüllung der politischen Pflichten ver¬
liehenen Rechte eine unabhängige Rechtsprechung anordnet. Denn die Rechts¬
pflege ist selber eine Verwaltungsthätigkeit oder ein Walten der Staatskraft.
Sie mag eingerichtet sein, wie sie will, selbst bei den vollkommensten Gesetzen
und bei ununterbrochener Thätigkeit der Gesetzgebung wird das Leben des
Staates sich nicht in Gesetzgebung und Rechtspflege abgeschlossen finden, und
da dieses Leben ein einheitliches und in allen seinen Theilen zusammenhän¬
gendes ist, so kann das außerhalb der Rechtspflege und Gesetzgebung sich be-


Was versteht man unter dem Ausdrucke „Rechtsstaat"? Vähr, der
neueste wissenschaftliche Vertreter der hier berührten Idee, antwortet: eine
solche Gestaltung der Genossenschaft der Nation, in welcher dieselbe das Recht
zur Grundbedingung ihres Daseins erhoben hat, und alles in ihr sich regende
Leben, das der Individuen sowohl wie das der Gesammtheit, unbeschadet der
für dasselbe nöthigen Freiheit sich um die Grundangeln des Rechtes bewegt.
Der ideale Staat ist ihm „der juristisch entwickelte Begriff für die Genossen¬
schaft der Nation". Das ganze Streben der Neuzeit sei, meint er, von dem
Begehren durchdrungen, „daß der Staatsbegriff die Stellung der Obrigkeit in
dieser Gemeinschaft nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich beherrsche".

Nun ist das Recht gewiß eine der Grundlagen der Volksgemeinde, aber
nicht die einzige. Wo Alles im Staate sich „um die Grundangeln des Rechtes
bewegte", wäre dieses nicht, wie Held sehr richtig bemerkt, der weite Rahmen
des äußeren Lebens, innerhalb dessen eine freie und mannichfaltige Bewegung
zulässig sein würde, sondern „der spanische Stiefel, der jede Bewegung schon
im Voraus mit unerbittlicher Strenge einzwängte und allerdings ein Minderes
als die Erfüllung der Rechtsforderung nicht gestattete, aber auch ein Mehreres
nicht zuließe". Wenn die höchste obrigkeitliche Persönlichkeit, der Souverän,
die Pflichten seiner Stellung als Rechtspflichten anzusehen hat, er aber für die
Erfüllung derselben nie rechtlich verantwortlich gemacht werden kann, so werden
wenigstens bei ihm das rechtliche und das moralische Beherrschtwerden sich
kaum scheiden lassen. Und was soll geschehen, wenn die moralischen Elemente
des Staatsbegriffes, der die Stellung der Obrigkeit beherrscht, mit den recht¬
lichen in Kollision gerathen, oder wenn unter außerordentlichen Umständen die
Beherrschung der Obrigkeit durch das vorhandene Recht wegen dessen Unzu¬
länglichkeit unmöglich ist? Diese Fragen erledigt man nicht, wenn man Rechts¬
pflege und Regierung trennt, der ersteren die Handhabung der Gesetze, der
letzteren eine freie Thätigkeit innerhalb der Schranken des Rechtes anweist und
die Verwaltung wegen ihrer Stellung zum Gesetze einer Rechtsprechung unter¬
wirft, ihre Trennung von der Justiz äußerlich nach Möglichkeit durchführt
und auch für die verfassungsmäßigen politischen Berechtigungen der Staats¬
bürger, d. h. für die den letzteren zur Erfüllung der politischen Pflichten ver¬
liehenen Rechte eine unabhängige Rechtsprechung anordnet. Denn die Rechts¬
pflege ist selber eine Verwaltungsthätigkeit oder ein Walten der Staatskraft.
Sie mag eingerichtet sein, wie sie will, selbst bei den vollkommensten Gesetzen
und bei ununterbrochener Thätigkeit der Gesetzgebung wird das Leben des
Staates sich nicht in Gesetzgebung und Rechtspflege abgeschlossen finden, und
da dieses Leben ein einheitliches und in allen seinen Theilen zusammenhän¬
gendes ist, so kann das außerhalb der Rechtspflege und Gesetzgebung sich be-


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[0086] Was versteht man unter dem Ausdrucke „Rechtsstaat"? Vähr, der neueste wissenschaftliche Vertreter der hier berührten Idee, antwortet: eine solche Gestaltung der Genossenschaft der Nation, in welcher dieselbe das Recht zur Grundbedingung ihres Daseins erhoben hat, und alles in ihr sich regende Leben, das der Individuen sowohl wie das der Gesammtheit, unbeschadet der für dasselbe nöthigen Freiheit sich um die Grundangeln des Rechtes bewegt. Der ideale Staat ist ihm „der juristisch entwickelte Begriff für die Genossen¬ schaft der Nation". Das ganze Streben der Neuzeit sei, meint er, von dem Begehren durchdrungen, „daß der Staatsbegriff die Stellung der Obrigkeit in dieser Gemeinschaft nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich beherrsche". Nun ist das Recht gewiß eine der Grundlagen der Volksgemeinde, aber nicht die einzige. Wo Alles im Staate sich „um die Grundangeln des Rechtes bewegte", wäre dieses nicht, wie Held sehr richtig bemerkt, der weite Rahmen des äußeren Lebens, innerhalb dessen eine freie und mannichfaltige Bewegung zulässig sein würde, sondern „der spanische Stiefel, der jede Bewegung schon im Voraus mit unerbittlicher Strenge einzwängte und allerdings ein Minderes als die Erfüllung der Rechtsforderung nicht gestattete, aber auch ein Mehreres nicht zuließe". Wenn die höchste obrigkeitliche Persönlichkeit, der Souverän, die Pflichten seiner Stellung als Rechtspflichten anzusehen hat, er aber für die Erfüllung derselben nie rechtlich verantwortlich gemacht werden kann, so werden wenigstens bei ihm das rechtliche und das moralische Beherrschtwerden sich kaum scheiden lassen. Und was soll geschehen, wenn die moralischen Elemente des Staatsbegriffes, der die Stellung der Obrigkeit beherrscht, mit den recht¬ lichen in Kollision gerathen, oder wenn unter außerordentlichen Umständen die Beherrschung der Obrigkeit durch das vorhandene Recht wegen dessen Unzu¬ länglichkeit unmöglich ist? Diese Fragen erledigt man nicht, wenn man Rechts¬ pflege und Regierung trennt, der ersteren die Handhabung der Gesetze, der letzteren eine freie Thätigkeit innerhalb der Schranken des Rechtes anweist und die Verwaltung wegen ihrer Stellung zum Gesetze einer Rechtsprechung unter¬ wirft, ihre Trennung von der Justiz äußerlich nach Möglichkeit durchführt und auch für die verfassungsmäßigen politischen Berechtigungen der Staats¬ bürger, d. h. für die den letzteren zur Erfüllung der politischen Pflichten ver¬ liehenen Rechte eine unabhängige Rechtsprechung anordnet. Denn die Rechts¬ pflege ist selber eine Verwaltungsthätigkeit oder ein Walten der Staatskraft. Sie mag eingerichtet sein, wie sie will, selbst bei den vollkommensten Gesetzen und bei ununterbrochener Thätigkeit der Gesetzgebung wird das Leben des Staates sich nicht in Gesetzgebung und Rechtspflege abgeschlossen finden, und da dieses Leben ein einheitliches und in allen seinen Theilen zusammenhän¬ gendes ist, so kann das außerhalb der Rechtspflege und Gesetzgebung sich be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/86>, abgerufen am 27.12.2024.