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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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trieb das Gerücht die Thatsachen um ein Bedeutendes. Die Nachricht von der
Katastrophe verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch ganz Venedig, und schon
um vier Uhr drang sie zu Pietro Aretino, der eben einen Brief von dem zur
Zeit in Rom weilenden Tizian erhalten hatte. Ein etwas voreiliger Diener der
Gerechtigkeit bemächtigte sich sofort des unglücklichen Baumeisters und steckte ihn
in's Gefängniß. Seine Freunde, Pietro Aretino und der Bildhauer und Dichter
Dcmese Cattaneo an der Spitze, setzten sofort alle Hebel in Bewegung, um die
Freilassung Sansovino's zu erwirken. Don Diego Mendoza, der kaiserliche
Geschäftsträger, der sich als Statthalter von Siena gerade in dieser Stadt be¬
fand, schickte sofort einen Boten an Sansovino, der ihn seines Beistandes ver¬
sicherte. Aretino schrieb noch in der Nacht einen Brief an Tizian nach Rom,
in welchem er das Mißgeschick Sansovino's im threnodischen Stile eines Cicero
beklagte.

Crowe und Cavalcaselle nehmen in ihrer Tizian-Biographie an, daß die
Freilassung Sansovino's hauptsächlich ihrem Helden zu verdanken gewesen, der
mit dem neuen Dogen Pietro Lando in näheren Beziehungen stand. Sie be¬
rufen sich dabei auf Beltrcune, dessen Meinung sich zweifellos auf Urkundliches
stütze, wenn er dergleichen auch nicht angebe. Gegenüber der Darstellung
Temanza's aber, der die von ihm benutzten Urkunden auch immer, sogar häufig
im Wortlaute, zitirt, ist die Meinung der beiden berühmten Forscher, welche
sich auf Urkunden und Inschriften weniger gut verstehen als auf Stilanalysen,
nicht stichhaltig. Danach scheint es vielmehr, daß Sansovino unverzüglich in
Freiheit gesetzt wurde, nachdem sich seine Verhaftung aus dem Uebereifer eines
untergeordneten Organes der Exekutivbehörde erklärt hatte. Der voreilige
Sbirre wanderte an seiner Stelle in's Gefängniß. Man braucht dabei nicht
immer gleich an die Bleikammern oder an die schauerlichen, lichtlosen Löcher
unter dem Kanal an der Seufzerbrücke zu denken. Diese Marterkammern blieben
meist für politische Verbrecher reservirt.

Die Verhaftung Sansovino's war aber nur das kleinste der Mißgeschicke,
die den Meister trafen. Er wurde sofort aller seiner Aemter und Obliegen¬
heiten enthoben und ihm ein peinlicher Prozeß gemacht, der mit seiner Ver-
urtheilung zu einer Geldbuße von tausend Dukaten endete. Die Akten dieses
Prozesses sind noch vorhanden, oder waren es wenigstens noch, als Temanza
seine Biographie des Meisters schrieb Ueber den Einsturz selbst heißt es
darin sehr lakonisch: "1545. 18. Dezember. Freitag am Abend, um ein Uhr
in der Nacht, stürzte das neue Gebäude gegenüber dem Palaste ein, an der
Seite nach der Panataria zu." Aus den angestellten Verhören ging hervor,
daß die einen die Schuld an dem Einsturz der Eile beimaßeu, mit welcher
gemauert worden war, andere dem plötzlich eingetretenen, übermäßigen Froste,


trieb das Gerücht die Thatsachen um ein Bedeutendes. Die Nachricht von der
Katastrophe verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch ganz Venedig, und schon
um vier Uhr drang sie zu Pietro Aretino, der eben einen Brief von dem zur
Zeit in Rom weilenden Tizian erhalten hatte. Ein etwas voreiliger Diener der
Gerechtigkeit bemächtigte sich sofort des unglücklichen Baumeisters und steckte ihn
in's Gefängniß. Seine Freunde, Pietro Aretino und der Bildhauer und Dichter
Dcmese Cattaneo an der Spitze, setzten sofort alle Hebel in Bewegung, um die
Freilassung Sansovino's zu erwirken. Don Diego Mendoza, der kaiserliche
Geschäftsträger, der sich als Statthalter von Siena gerade in dieser Stadt be¬
fand, schickte sofort einen Boten an Sansovino, der ihn seines Beistandes ver¬
sicherte. Aretino schrieb noch in der Nacht einen Brief an Tizian nach Rom,
in welchem er das Mißgeschick Sansovino's im threnodischen Stile eines Cicero
beklagte.

Crowe und Cavalcaselle nehmen in ihrer Tizian-Biographie an, daß die
Freilassung Sansovino's hauptsächlich ihrem Helden zu verdanken gewesen, der
mit dem neuen Dogen Pietro Lando in näheren Beziehungen stand. Sie be¬
rufen sich dabei auf Beltrcune, dessen Meinung sich zweifellos auf Urkundliches
stütze, wenn er dergleichen auch nicht angebe. Gegenüber der Darstellung
Temanza's aber, der die von ihm benutzten Urkunden auch immer, sogar häufig
im Wortlaute, zitirt, ist die Meinung der beiden berühmten Forscher, welche
sich auf Urkunden und Inschriften weniger gut verstehen als auf Stilanalysen,
nicht stichhaltig. Danach scheint es vielmehr, daß Sansovino unverzüglich in
Freiheit gesetzt wurde, nachdem sich seine Verhaftung aus dem Uebereifer eines
untergeordneten Organes der Exekutivbehörde erklärt hatte. Der voreilige
Sbirre wanderte an seiner Stelle in's Gefängniß. Man braucht dabei nicht
immer gleich an die Bleikammern oder an die schauerlichen, lichtlosen Löcher
unter dem Kanal an der Seufzerbrücke zu denken. Diese Marterkammern blieben
meist für politische Verbrecher reservirt.

Die Verhaftung Sansovino's war aber nur das kleinste der Mißgeschicke,
die den Meister trafen. Er wurde sofort aller seiner Aemter und Obliegen¬
heiten enthoben und ihm ein peinlicher Prozeß gemacht, der mit seiner Ver-
urtheilung zu einer Geldbuße von tausend Dukaten endete. Die Akten dieses
Prozesses sind noch vorhanden, oder waren es wenigstens noch, als Temanza
seine Biographie des Meisters schrieb Ueber den Einsturz selbst heißt es
darin sehr lakonisch: „1545. 18. Dezember. Freitag am Abend, um ein Uhr
in der Nacht, stürzte das neue Gebäude gegenüber dem Palaste ein, an der
Seite nach der Panataria zu." Aus den angestellten Verhören ging hervor,
daß die einen die Schuld an dem Einsturz der Eile beimaßeu, mit welcher
gemauert worden war, andere dem plötzlich eingetretenen, übermäßigen Froste,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/474>, abgerufen am 20.10.2024.