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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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denkbar, daß alle Bürger sich ohne Widerstand einem Spruche unterworfen
hätten, der sie für Lebenszeit zu einem bestimmten Gewerbe verurtheilte, sie zu
Dienern der andern Stände machte und ihnen jede Aussicht auf ein Empor¬
steigen vom 20. Lebensjahre an vollständig abschnitt? Man kann das nur
glauben, wenn man der Meinung ist, durch Gesetze die menschliche Natur
ändern zu können, und wenn man die mächtigsten menschlichen Triebfedern ver¬
kennt: den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, das Streben nach
Fortschritt und Emporkommen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und das
nie rastende Bestreben nach gesteigertem Wohlsein. Auch das Bewußtsein, daß
von den höheren Stünden der eine sür vollkommene Sicherheit des Besitzes,
der andere für eine gute Verwaltung sorgt, und selbst der höchste Grad des
materiellen Wohlseins können jene höheren Triebe nicht ersticken und werden
in jedem auf ähnliche sozialistische Prinzipien gebauten Staate diejenige Unzu¬
friedenheit der arbeitenden Klasse erzeugen, welche alsbald seine Grundlagen
wieder erschüttern muß.

Plciton hält es für feststehend, daß die Mehrzahl aller Menschen nur zu
den gewöhnlichen Erwerbsgeschäften, eine weit geringere Zahl zur Wnffenfüh-
rnng, die wenigsten zu höherer geistiger Thätigkeit und damit zur Leitung der
Uebrigen befähigt sind. Dies genügt ihm, um zu fordern, daß man gesetzlich
und unwiderruflich die ersteren in die Kaste der Arbeiter, die zweiten in die
der Krieger, die letzten in die der Herrscher einreihe. Eine Priesterkaste gibt
es bei ihm nicht. Die Religion bildet nur ein untergeordnetes Element im
Staatswesen; sie ist eines der Mittel zum Zweck und wird von den Regie¬
renden in der dem Staatszweck entsprechenden Form für die Erziehung ver¬
wendet. Von den Kasten der Inder und der Aegypter unterscheiden sich die
platonischen wesentlich dadurch, daß in ihnen keine Erblichkeit herrscht. Weder
Besitz,, noch Stand, noch Ehren können vererbt werden. Jede neue Generation
sieht sich ohne irgend eine Anwartschaft auf Vortheile außer derjenigen, welche
Fähigkeiten und Eifer dem Einzelnen geben. Die Söhne der Ersten im Staate
können zum niedrigsten Gewerbe verurtheilt werden, und nichts hindert den
Sprößling des Feldarbeiters, unter die Zahl der "Herrscher" zu gelangen.

Der platonische dritte Stand findet seine Haupt-Analogie bei den sparta¬
nischen Heloten und Perivken, welche ausschließlich auf den Ackerbau und die
Gewerbe, sowie den Handel angewiesen waren. Ebenso schließt die Institution
der Kriegerkaste sich am engsten an das spartanische Vorbild an. Während
indessen in Lakedämon der Kriegerstand zugleich auch der herrschende war und
die Leiter des Staates lieferte, und neben den Spartiaten auch die Unterthanen
mit zum Waffendienste herangezogen wurden, machte Platon ans den Kriegern
eine streng abgeschlossene Kaste, untersagte ihnen jede andere Beschäftigung und


denkbar, daß alle Bürger sich ohne Widerstand einem Spruche unterworfen
hätten, der sie für Lebenszeit zu einem bestimmten Gewerbe verurtheilte, sie zu
Dienern der andern Stände machte und ihnen jede Aussicht auf ein Empor¬
steigen vom 20. Lebensjahre an vollständig abschnitt? Man kann das nur
glauben, wenn man der Meinung ist, durch Gesetze die menschliche Natur
ändern zu können, und wenn man die mächtigsten menschlichen Triebfedern ver¬
kennt: den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, das Streben nach
Fortschritt und Emporkommen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und das
nie rastende Bestreben nach gesteigertem Wohlsein. Auch das Bewußtsein, daß
von den höheren Stünden der eine sür vollkommene Sicherheit des Besitzes,
der andere für eine gute Verwaltung sorgt, und selbst der höchste Grad des
materiellen Wohlseins können jene höheren Triebe nicht ersticken und werden
in jedem auf ähnliche sozialistische Prinzipien gebauten Staate diejenige Unzu¬
friedenheit der arbeitenden Klasse erzeugen, welche alsbald seine Grundlagen
wieder erschüttern muß.

Plciton hält es für feststehend, daß die Mehrzahl aller Menschen nur zu
den gewöhnlichen Erwerbsgeschäften, eine weit geringere Zahl zur Wnffenfüh-
rnng, die wenigsten zu höherer geistiger Thätigkeit und damit zur Leitung der
Uebrigen befähigt sind. Dies genügt ihm, um zu fordern, daß man gesetzlich
und unwiderruflich die ersteren in die Kaste der Arbeiter, die zweiten in die
der Krieger, die letzten in die der Herrscher einreihe. Eine Priesterkaste gibt
es bei ihm nicht. Die Religion bildet nur ein untergeordnetes Element im
Staatswesen; sie ist eines der Mittel zum Zweck und wird von den Regie¬
renden in der dem Staatszweck entsprechenden Form für die Erziehung ver¬
wendet. Von den Kasten der Inder und der Aegypter unterscheiden sich die
platonischen wesentlich dadurch, daß in ihnen keine Erblichkeit herrscht. Weder
Besitz,, noch Stand, noch Ehren können vererbt werden. Jede neue Generation
sieht sich ohne irgend eine Anwartschaft auf Vortheile außer derjenigen, welche
Fähigkeiten und Eifer dem Einzelnen geben. Die Söhne der Ersten im Staate
können zum niedrigsten Gewerbe verurtheilt werden, und nichts hindert den
Sprößling des Feldarbeiters, unter die Zahl der „Herrscher" zu gelangen.

Der platonische dritte Stand findet seine Haupt-Analogie bei den sparta¬
nischen Heloten und Perivken, welche ausschließlich auf den Ackerbau und die
Gewerbe, sowie den Handel angewiesen waren. Ebenso schließt die Institution
der Kriegerkaste sich am engsten an das spartanische Vorbild an. Während
indessen in Lakedämon der Kriegerstand zugleich auch der herrschende war und
die Leiter des Staates lieferte, und neben den Spartiaten auch die Unterthanen
mit zum Waffendienste herangezogen wurden, machte Platon ans den Kriegern
eine streng abgeschlossene Kaste, untersagte ihnen jede andere Beschäftigung und


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[0456] denkbar, daß alle Bürger sich ohne Widerstand einem Spruche unterworfen hätten, der sie für Lebenszeit zu einem bestimmten Gewerbe verurtheilte, sie zu Dienern der andern Stände machte und ihnen jede Aussicht auf ein Empor¬ steigen vom 20. Lebensjahre an vollständig abschnitt? Man kann das nur glauben, wenn man der Meinung ist, durch Gesetze die menschliche Natur ändern zu können, und wenn man die mächtigsten menschlichen Triebfedern ver¬ kennt: den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, das Streben nach Fortschritt und Emporkommen, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und das nie rastende Bestreben nach gesteigertem Wohlsein. Auch das Bewußtsein, daß von den höheren Stünden der eine sür vollkommene Sicherheit des Besitzes, der andere für eine gute Verwaltung sorgt, und selbst der höchste Grad des materiellen Wohlseins können jene höheren Triebe nicht ersticken und werden in jedem auf ähnliche sozialistische Prinzipien gebauten Staate diejenige Unzu¬ friedenheit der arbeitenden Klasse erzeugen, welche alsbald seine Grundlagen wieder erschüttern muß. Plciton hält es für feststehend, daß die Mehrzahl aller Menschen nur zu den gewöhnlichen Erwerbsgeschäften, eine weit geringere Zahl zur Wnffenfüh- rnng, die wenigsten zu höherer geistiger Thätigkeit und damit zur Leitung der Uebrigen befähigt sind. Dies genügt ihm, um zu fordern, daß man gesetzlich und unwiderruflich die ersteren in die Kaste der Arbeiter, die zweiten in die der Krieger, die letzten in die der Herrscher einreihe. Eine Priesterkaste gibt es bei ihm nicht. Die Religion bildet nur ein untergeordnetes Element im Staatswesen; sie ist eines der Mittel zum Zweck und wird von den Regie¬ renden in der dem Staatszweck entsprechenden Form für die Erziehung ver¬ wendet. Von den Kasten der Inder und der Aegypter unterscheiden sich die platonischen wesentlich dadurch, daß in ihnen keine Erblichkeit herrscht. Weder Besitz,, noch Stand, noch Ehren können vererbt werden. Jede neue Generation sieht sich ohne irgend eine Anwartschaft auf Vortheile außer derjenigen, welche Fähigkeiten und Eifer dem Einzelnen geben. Die Söhne der Ersten im Staate können zum niedrigsten Gewerbe verurtheilt werden, und nichts hindert den Sprößling des Feldarbeiters, unter die Zahl der „Herrscher" zu gelangen. Der platonische dritte Stand findet seine Haupt-Analogie bei den sparta¬ nischen Heloten und Perivken, welche ausschließlich auf den Ackerbau und die Gewerbe, sowie den Handel angewiesen waren. Ebenso schließt die Institution der Kriegerkaste sich am engsten an das spartanische Vorbild an. Während indessen in Lakedämon der Kriegerstand zugleich auch der herrschende war und die Leiter des Staates lieferte, und neben den Spartiaten auch die Unterthanen mit zum Waffendienste herangezogen wurden, machte Platon ans den Kriegern eine streng abgeschlossene Kaste, untersagte ihnen jede andere Beschäftigung und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/456>, abgerufen am 20.10.2024.