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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Zeichner Chodowiecky, damals 30jährig, aus Danzig, der eben Holzschnitte
für den Berliner Kalender arbeitete, und aus dessen Bildern man mehr von
dem damaligen Leben erfährt, als aus vielen poetischen Versuchen.

In diesem Kreise, der sich in gewissen Sinn an die französische Kolonie
anlehnte, überwog die kritische Richtung; es war entscheidend für Lessing, der
freilich Allen weitaus überlegen war, daß er in einer Periode hineinkam, wo der
Charakter sich zu bilden pflegt. Aus dieser Wechselwirkung entsprang die Be¬
deutung Berlin's für die deutsche Literatur. Lessing kam nach Berlin mit
der Idee, an Fruchtbarkeit mit Lope de Vega zu wetteifern; er erkannte bald,
daß seine Aufgabe zunächst eine kritische war.

Die Geschichte der modernen deutschen Literatur hat das Eigene, daß sie
nicht mit der Produktion, sondern mit der Kritik beginnt, daß sie nicht ursprüng¬
lich bildet, sondern nach Bildung strebt. Sie geht nicht aus einem Ueberreich¬
thum entwickelter und gebildeter nationaler Kräfte hervor, sondern aus einem
Gefühl des Mangels: den unbeholfen sich drängenden Kräften fehlt es an
Sättigung. Sie beginnt mit dem Gefühl von der Hohlheit des bisherigen poe¬
tischen Treibens, mit dem leidenschaftlichen Abscheu gegen leere Worte und
behagliche Spielereien, mit dem Hunger nach Realität, mit dem wilden Umsich¬
greifen nach dem Wahren und Schönen. Die Kritik ruft in der deutschen Poesie
einen ähnlichen Prozeß hervor, wie der preußische Staat im deutschen Reiche.

Im Januar 1759 erschien in Berlin das erste Heft der "Briefe die neueste
Literatur betreffend", an einen verwundeten Offizier gerichtet. "Die zwei ge¬
fährlichen Jahre," schreibt Lessing hier, "die Sie der Ehre, dem König und dem
Vaterland opfern müssen, sind reich genug an Wundern, nur nicht an gelehrten
Wundern gewesen. Gegen hundert Namen, die alle erst in diesem Krieg als
Namen verdienstvoller Helden bekannt geworden, gegen tausend kühne Thaten,
an welchen Sie Theil hatten, kann ich Ihnen nicht ein einziges neues Genie
nennen, kann ich Ihnen nur sehr wenig Werke schon bekannter Verfasser an¬
führen, die mit jenen Thaten der Nachwelt aufbewahrt zu werden verdienten."

Das Inventar fällt in der That nicht glänzend aus, Lessing muß einen
Augiasstall auskehren. Unwissenheit, Halbheit, Trivialität, Unsinn werden
schonungslos gegeißelt; im Aufsuchen des corpus vns, an dem er seine Sonde
übt, spielt oft der Zufall seine Rolle; bramarbasirende Schreihälse und Viel¬
schreiber greift er am liebsten heraus; am eifrigsten fällt er über sie her, wenn
sie sich durch schlechte Uebersetzungen an der deutschen Sprache oder an den
Alten versündigen. Denn überwiegend philologisch ist die ganze Kritik, und
nicht selten glaubt man ein "Vademecum" zu lesen.

Daneben tritt das dramatische Interesse in den Vordergrund. Lessing
hatte seine Ideen in einer Korrespondenz mit Nicolai dargelegt; sie sind um


Zeichner Chodowiecky, damals 30jährig, aus Danzig, der eben Holzschnitte
für den Berliner Kalender arbeitete, und aus dessen Bildern man mehr von
dem damaligen Leben erfährt, als aus vielen poetischen Versuchen.

In diesem Kreise, der sich in gewissen Sinn an die französische Kolonie
anlehnte, überwog die kritische Richtung; es war entscheidend für Lessing, der
freilich Allen weitaus überlegen war, daß er in einer Periode hineinkam, wo der
Charakter sich zu bilden pflegt. Aus dieser Wechselwirkung entsprang die Be¬
deutung Berlin's für die deutsche Literatur. Lessing kam nach Berlin mit
der Idee, an Fruchtbarkeit mit Lope de Vega zu wetteifern; er erkannte bald,
daß seine Aufgabe zunächst eine kritische war.

Die Geschichte der modernen deutschen Literatur hat das Eigene, daß sie
nicht mit der Produktion, sondern mit der Kritik beginnt, daß sie nicht ursprüng¬
lich bildet, sondern nach Bildung strebt. Sie geht nicht aus einem Ueberreich¬
thum entwickelter und gebildeter nationaler Kräfte hervor, sondern aus einem
Gefühl des Mangels: den unbeholfen sich drängenden Kräften fehlt es an
Sättigung. Sie beginnt mit dem Gefühl von der Hohlheit des bisherigen poe¬
tischen Treibens, mit dem leidenschaftlichen Abscheu gegen leere Worte und
behagliche Spielereien, mit dem Hunger nach Realität, mit dem wilden Umsich¬
greifen nach dem Wahren und Schönen. Die Kritik ruft in der deutschen Poesie
einen ähnlichen Prozeß hervor, wie der preußische Staat im deutschen Reiche.

Im Januar 1759 erschien in Berlin das erste Heft der „Briefe die neueste
Literatur betreffend", an einen verwundeten Offizier gerichtet. „Die zwei ge¬
fährlichen Jahre," schreibt Lessing hier, „die Sie der Ehre, dem König und dem
Vaterland opfern müssen, sind reich genug an Wundern, nur nicht an gelehrten
Wundern gewesen. Gegen hundert Namen, die alle erst in diesem Krieg als
Namen verdienstvoller Helden bekannt geworden, gegen tausend kühne Thaten,
an welchen Sie Theil hatten, kann ich Ihnen nicht ein einziges neues Genie
nennen, kann ich Ihnen nur sehr wenig Werke schon bekannter Verfasser an¬
führen, die mit jenen Thaten der Nachwelt aufbewahrt zu werden verdienten."

Das Inventar fällt in der That nicht glänzend aus, Lessing muß einen
Augiasstall auskehren. Unwissenheit, Halbheit, Trivialität, Unsinn werden
schonungslos gegeißelt; im Aufsuchen des corpus vns, an dem er seine Sonde
übt, spielt oft der Zufall seine Rolle; bramarbasirende Schreihälse und Viel¬
schreiber greift er am liebsten heraus; am eifrigsten fällt er über sie her, wenn
sie sich durch schlechte Uebersetzungen an der deutschen Sprache oder an den
Alten versündigen. Denn überwiegend philologisch ist die ganze Kritik, und
nicht selten glaubt man ein „Vademecum" zu lesen.

Daneben tritt das dramatische Interesse in den Vordergrund. Lessing
hatte seine Ideen in einer Korrespondenz mit Nicolai dargelegt; sie sind um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/300>, abgerufen am 19.10.2024.