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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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erheben, wenn nicht zuvor die Pforte dem von früher her datirenden Genüge
geleistet hat. Der Eindruck, den man aus einer eingehenderen Ueberlegung
dieser Dinge gewinnt, ist der, daß es sich dabei wesentlich um Fiktionen
handelt, weil, in Anbetracht der vollkommenen Aussichtslosigkeit auf Be¬
friedigung, auch selbst dem der Form nach wohl begründetsten Anrecht keine
reale Bedeutung inne wohnt. Andererseits aber bleibt zu erwägen, daß die Nicht¬
erfüllung einer finanziellen Leistung seitens der Pforte an Rußland diesem
das Recht sichert, später eine anderweitige Entschädigung zu beanspruchen,
und eben in diesem hochwichtigen Umstände dürfte der eigentliche Kern der
Frage enthalten sein. Ob man in Se. Petersburg entschlossen ist, die bezüg¬
lichen Stipulationen des Irnitö äöünitik vom 8. Februar d. I. schon dem¬
nächst zu einer nachdrücklichen Einmischung in die inneren türkischen Ange¬
legenheiten zu benutzen, darüber laßt sich heute kein bestimmtes Urtheil auf¬
stellen -- wahrscheinlich ist es nicht. Am wenigsten unterstützt die Haltung
der gegenwärtigen russischen Vertretung zu Konstantinopel eine solche An¬
nahme. Im Unterschied von anderen tritt sie den osmanischen Staatsmännern
gegenüber entschieden minder brüsk, in entscheidenden Augenblicken sogar behut¬
sam, mit vorbedachter Rücksicht und in glatten, schmiegsamen Formen auf.
Sie faßt die streitigen Dinge mit Sammethandschuhen an und nicht mehr
rauh und hart wie ehedem. Wenn es sich dennoch darum handelt und es
sich als unvermeidlich herausstellt, dem Divan eine bittere Pille einzugeben, so
weiß die hiesige russische Diplomatie sie sorgsam zu überzuckern und zu ver¬
golden. Das Alles ist augenscheinlich ebensowohl auf die Nothwendigkeiten
des Augenblickes, die Rußland darauf anweisen, jede neue Verwickelung zu
vermeiden, wie namentlich auch auf die Zukunft berechnet, für die man sich die
Alternative wahren will, je nach Umständen den einen oder anderen der beiden
vorerwähnten, so sehr von einander verschiedenen Wege nach dem Endziel hin
einzuschlagen. Auch scheint unter Bezugnahme hierauf, unmittelbar nach den
Präliminarien von San Stefano, die Wahl des neuen Repräsentanten des
Czaren getroffen worden zu sein. Fürst Lobanoff Rostowski ist nicht nur in
seinem äußeren Wesen und Auftreten von seinem Vorgänger, dem General
Jgnatieff, sehr verschieden. Unter allen in der Schule des auswärtigen diplo¬
matischen Dienstes gebildeten russischen Staatsmännern war er entschieden der¬
jenige, welcher für die eben bezeichnete Aufgabe als der bei weitem geeignetste
erschien. Schon früher, zu Ende der fünfziger und zu Anfang der sechziger
Jahre, als Botschafter bei der Pforte verwendet, kennt er aus der Periode
dieser längeren Amtsthätigkeit die hiesigen Verhältnisse ziemlich genau. Seit¬
dem sind allerdings neue Persönlichkeiten hier emporgekommen, und die
damals leitend und einflußübend gewesenen sind abgetreten. Allein den


erheben, wenn nicht zuvor die Pforte dem von früher her datirenden Genüge
geleistet hat. Der Eindruck, den man aus einer eingehenderen Ueberlegung
dieser Dinge gewinnt, ist der, daß es sich dabei wesentlich um Fiktionen
handelt, weil, in Anbetracht der vollkommenen Aussichtslosigkeit auf Be¬
friedigung, auch selbst dem der Form nach wohl begründetsten Anrecht keine
reale Bedeutung inne wohnt. Andererseits aber bleibt zu erwägen, daß die Nicht¬
erfüllung einer finanziellen Leistung seitens der Pforte an Rußland diesem
das Recht sichert, später eine anderweitige Entschädigung zu beanspruchen,
und eben in diesem hochwichtigen Umstände dürfte der eigentliche Kern der
Frage enthalten sein. Ob man in Se. Petersburg entschlossen ist, die bezüg¬
lichen Stipulationen des Irnitö äöünitik vom 8. Februar d. I. schon dem¬
nächst zu einer nachdrücklichen Einmischung in die inneren türkischen Ange¬
legenheiten zu benutzen, darüber laßt sich heute kein bestimmtes Urtheil auf¬
stellen — wahrscheinlich ist es nicht. Am wenigsten unterstützt die Haltung
der gegenwärtigen russischen Vertretung zu Konstantinopel eine solche An¬
nahme. Im Unterschied von anderen tritt sie den osmanischen Staatsmännern
gegenüber entschieden minder brüsk, in entscheidenden Augenblicken sogar behut¬
sam, mit vorbedachter Rücksicht und in glatten, schmiegsamen Formen auf.
Sie faßt die streitigen Dinge mit Sammethandschuhen an und nicht mehr
rauh und hart wie ehedem. Wenn es sich dennoch darum handelt und es
sich als unvermeidlich herausstellt, dem Divan eine bittere Pille einzugeben, so
weiß die hiesige russische Diplomatie sie sorgsam zu überzuckern und zu ver¬
golden. Das Alles ist augenscheinlich ebensowohl auf die Nothwendigkeiten
des Augenblickes, die Rußland darauf anweisen, jede neue Verwickelung zu
vermeiden, wie namentlich auch auf die Zukunft berechnet, für die man sich die
Alternative wahren will, je nach Umständen den einen oder anderen der beiden
vorerwähnten, so sehr von einander verschiedenen Wege nach dem Endziel hin
einzuschlagen. Auch scheint unter Bezugnahme hierauf, unmittelbar nach den
Präliminarien von San Stefano, die Wahl des neuen Repräsentanten des
Czaren getroffen worden zu sein. Fürst Lobanoff Rostowski ist nicht nur in
seinem äußeren Wesen und Auftreten von seinem Vorgänger, dem General
Jgnatieff, sehr verschieden. Unter allen in der Schule des auswärtigen diplo¬
matischen Dienstes gebildeten russischen Staatsmännern war er entschieden der¬
jenige, welcher für die eben bezeichnete Aufgabe als der bei weitem geeignetste
erschien. Schon früher, zu Ende der fünfziger und zu Anfang der sechziger
Jahre, als Botschafter bei der Pforte verwendet, kennt er aus der Periode
dieser längeren Amtsthätigkeit die hiesigen Verhältnisse ziemlich genau. Seit¬
dem sind allerdings neue Persönlichkeiten hier emporgekommen, und die
damals leitend und einflußübend gewesenen sind abgetreten. Allein den


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[0291] erheben, wenn nicht zuvor die Pforte dem von früher her datirenden Genüge geleistet hat. Der Eindruck, den man aus einer eingehenderen Ueberlegung dieser Dinge gewinnt, ist der, daß es sich dabei wesentlich um Fiktionen handelt, weil, in Anbetracht der vollkommenen Aussichtslosigkeit auf Be¬ friedigung, auch selbst dem der Form nach wohl begründetsten Anrecht keine reale Bedeutung inne wohnt. Andererseits aber bleibt zu erwägen, daß die Nicht¬ erfüllung einer finanziellen Leistung seitens der Pforte an Rußland diesem das Recht sichert, später eine anderweitige Entschädigung zu beanspruchen, und eben in diesem hochwichtigen Umstände dürfte der eigentliche Kern der Frage enthalten sein. Ob man in Se. Petersburg entschlossen ist, die bezüg¬ lichen Stipulationen des Irnitö äöünitik vom 8. Februar d. I. schon dem¬ nächst zu einer nachdrücklichen Einmischung in die inneren türkischen Ange¬ legenheiten zu benutzen, darüber laßt sich heute kein bestimmtes Urtheil auf¬ stellen — wahrscheinlich ist es nicht. Am wenigsten unterstützt die Haltung der gegenwärtigen russischen Vertretung zu Konstantinopel eine solche An¬ nahme. Im Unterschied von anderen tritt sie den osmanischen Staatsmännern gegenüber entschieden minder brüsk, in entscheidenden Augenblicken sogar behut¬ sam, mit vorbedachter Rücksicht und in glatten, schmiegsamen Formen auf. Sie faßt die streitigen Dinge mit Sammethandschuhen an und nicht mehr rauh und hart wie ehedem. Wenn es sich dennoch darum handelt und es sich als unvermeidlich herausstellt, dem Divan eine bittere Pille einzugeben, so weiß die hiesige russische Diplomatie sie sorgsam zu überzuckern und zu ver¬ golden. Das Alles ist augenscheinlich ebensowohl auf die Nothwendigkeiten des Augenblickes, die Rußland darauf anweisen, jede neue Verwickelung zu vermeiden, wie namentlich auch auf die Zukunft berechnet, für die man sich die Alternative wahren will, je nach Umständen den einen oder anderen der beiden vorerwähnten, so sehr von einander verschiedenen Wege nach dem Endziel hin einzuschlagen. Auch scheint unter Bezugnahme hierauf, unmittelbar nach den Präliminarien von San Stefano, die Wahl des neuen Repräsentanten des Czaren getroffen worden zu sein. Fürst Lobanoff Rostowski ist nicht nur in seinem äußeren Wesen und Auftreten von seinem Vorgänger, dem General Jgnatieff, sehr verschieden. Unter allen in der Schule des auswärtigen diplo¬ matischen Dienstes gebildeten russischen Staatsmännern war er entschieden der¬ jenige, welcher für die eben bezeichnete Aufgabe als der bei weitem geeignetste erschien. Schon früher, zu Ende der fünfziger und zu Anfang der sechziger Jahre, als Botschafter bei der Pforte verwendet, kennt er aus der Periode dieser längeren Amtsthätigkeit die hiesigen Verhältnisse ziemlich genau. Seit¬ dem sind allerdings neue Persönlichkeiten hier emporgekommen, und die damals leitend und einflußübend gewesenen sind abgetreten. Allein den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/291>, abgerufen am 27.09.2024.