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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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scheinlichkeit bestimmter Erscheinungen in Zeit und Raum, aber nicht das Gesetz
ihrer Triebkräfte lehren. Dies wird vom Denker auch eben so oft durch die
Anregung eines Zufalls erforscht. Nicht die Zahlen der astronomischen Beob¬
achtungen, der Fall eines Apfels vom Baume in windstiller Luft hat Newton
dazu geführt, das Gesetz der Gravitation zu entdecken.

Wir können einerseits Quetelet zugestehen, daß die individuellen Eigen¬
thümlichkeiten, seien sie physischer, intellektueller oder sittlicher Art, aufgehoben
werden und den Kreis von allgemeinen Thatsachen, kraft deren die Gesellschaft
besteht und sich forterhält, prädominiren lassen, je größer die Anzahl der
Individuen ist, an denen die Beobachtungen angestellt werden; wir können zu¬
gestehen, daß die Gesellschaft der Keim aller Verbrechen, die begangen werden,
in sich trägt, daß sie es selber ist, die sie gewissermaßen vorbereitet, und der
Schuldbelastete nur das Werkzeug, das sie zur Ausführung bringt, daß jeder
soziale Zustand eine bestimmte Anzahl und eine bestimmte Ordnung von Ver¬
brechen voraussetzt, welche als nothwendige Folge aus seiner Organisation,
seiner Einrichtung hervorgehen. Wir müssen aber auch Laurent in der Ver¬
theidigung des freien menschlichen Willens zustimmen, wenn er vom sittlichen
Fortschritt der Gesellschaft sagt: "Wer ist denn der Urheber dieses Fort¬
schritts? Es ist der Mensch. Wenn die Materie besiegt und die Natur be¬
zwungen ist, wenn die Wissenschaft die Unendlichkeit der Himmel erforscht,
wenn sie die Geheimnisse der Schöpfung offenbart, wenn die Staaten auf der
Grundlage der Freiheit und Gleichheit organisirt werden, so werden diese Fort¬
schritte sicherlich nur der Thätigkeit des Menschen verdankt." Ja, Laurent hat
gar nicht nöthig, so abstrakt vom Menschen zu sprechen; dieser Fortschritt wird
meist einzelnen hervorragenden Menschen verdankt, den Bahnbrechern des Fort¬
schritts. Aber eine Bedingung darf dabei nicht verschwiegen werden, diejenige
nämlich, daß der einzelne Mensch gemeinnützig wirken muß, wenn seine indi¬
viduelle Superiorität der Gesellschaft zu gute kommen soll. Die Verbreitung
sittlicher und geistiger Bildung ist, wie das Licht, das Prometheus vom
Himmel geholt: Wir theilen es Anderen mit, ohne selbst davon etwas zu ver¬
lieren. Die tiefe Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft, in der er
lebt mit allen Wurzeln seines Seins, sollte Jeden abhalten, in einsiedlerischer
Selbstentwickelung nur sich selbst zu genügen. Ein hoher geistiger Aristokra¬
tismus, sich abschließend in harmonischer Ausbildung der eigenen Individua¬
lität, kann ausnahmsweise große Normalmenschen erzeugen, wie Goethe. Einpfeh-
lenswerth als Beispiel ist dies Verhalten aber nicht. Mag Rückert es mit
den Worten zu entschuldigen scheinen:


Wenn die Rose selbst sich schmückt.
Schmückt sie auch den Garten,

scheinlichkeit bestimmter Erscheinungen in Zeit und Raum, aber nicht das Gesetz
ihrer Triebkräfte lehren. Dies wird vom Denker auch eben so oft durch die
Anregung eines Zufalls erforscht. Nicht die Zahlen der astronomischen Beob¬
achtungen, der Fall eines Apfels vom Baume in windstiller Luft hat Newton
dazu geführt, das Gesetz der Gravitation zu entdecken.

Wir können einerseits Quetelet zugestehen, daß die individuellen Eigen¬
thümlichkeiten, seien sie physischer, intellektueller oder sittlicher Art, aufgehoben
werden und den Kreis von allgemeinen Thatsachen, kraft deren die Gesellschaft
besteht und sich forterhält, prädominiren lassen, je größer die Anzahl der
Individuen ist, an denen die Beobachtungen angestellt werden; wir können zu¬
gestehen, daß die Gesellschaft der Keim aller Verbrechen, die begangen werden,
in sich trägt, daß sie es selber ist, die sie gewissermaßen vorbereitet, und der
Schuldbelastete nur das Werkzeug, das sie zur Ausführung bringt, daß jeder
soziale Zustand eine bestimmte Anzahl und eine bestimmte Ordnung von Ver¬
brechen voraussetzt, welche als nothwendige Folge aus seiner Organisation,
seiner Einrichtung hervorgehen. Wir müssen aber auch Laurent in der Ver¬
theidigung des freien menschlichen Willens zustimmen, wenn er vom sittlichen
Fortschritt der Gesellschaft sagt: „Wer ist denn der Urheber dieses Fort¬
schritts? Es ist der Mensch. Wenn die Materie besiegt und die Natur be¬
zwungen ist, wenn die Wissenschaft die Unendlichkeit der Himmel erforscht,
wenn sie die Geheimnisse der Schöpfung offenbart, wenn die Staaten auf der
Grundlage der Freiheit und Gleichheit organisirt werden, so werden diese Fort¬
schritte sicherlich nur der Thätigkeit des Menschen verdankt." Ja, Laurent hat
gar nicht nöthig, so abstrakt vom Menschen zu sprechen; dieser Fortschritt wird
meist einzelnen hervorragenden Menschen verdankt, den Bahnbrechern des Fort¬
schritts. Aber eine Bedingung darf dabei nicht verschwiegen werden, diejenige
nämlich, daß der einzelne Mensch gemeinnützig wirken muß, wenn seine indi¬
viduelle Superiorität der Gesellschaft zu gute kommen soll. Die Verbreitung
sittlicher und geistiger Bildung ist, wie das Licht, das Prometheus vom
Himmel geholt: Wir theilen es Anderen mit, ohne selbst davon etwas zu ver¬
lieren. Die tiefe Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft, in der er
lebt mit allen Wurzeln seines Seins, sollte Jeden abhalten, in einsiedlerischer
Selbstentwickelung nur sich selbst zu genügen. Ein hoher geistiger Aristokra¬
tismus, sich abschließend in harmonischer Ausbildung der eigenen Individua¬
lität, kann ausnahmsweise große Normalmenschen erzeugen, wie Goethe. Einpfeh-
lenswerth als Beispiel ist dies Verhalten aber nicht. Mag Rückert es mit
den Worten zu entschuldigen scheinen:


Wenn die Rose selbst sich schmückt.
Schmückt sie auch den Garten,

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[0268] scheinlichkeit bestimmter Erscheinungen in Zeit und Raum, aber nicht das Gesetz ihrer Triebkräfte lehren. Dies wird vom Denker auch eben so oft durch die Anregung eines Zufalls erforscht. Nicht die Zahlen der astronomischen Beob¬ achtungen, der Fall eines Apfels vom Baume in windstiller Luft hat Newton dazu geführt, das Gesetz der Gravitation zu entdecken. Wir können einerseits Quetelet zugestehen, daß die individuellen Eigen¬ thümlichkeiten, seien sie physischer, intellektueller oder sittlicher Art, aufgehoben werden und den Kreis von allgemeinen Thatsachen, kraft deren die Gesellschaft besteht und sich forterhält, prädominiren lassen, je größer die Anzahl der Individuen ist, an denen die Beobachtungen angestellt werden; wir können zu¬ gestehen, daß die Gesellschaft der Keim aller Verbrechen, die begangen werden, in sich trägt, daß sie es selber ist, die sie gewissermaßen vorbereitet, und der Schuldbelastete nur das Werkzeug, das sie zur Ausführung bringt, daß jeder soziale Zustand eine bestimmte Anzahl und eine bestimmte Ordnung von Ver¬ brechen voraussetzt, welche als nothwendige Folge aus seiner Organisation, seiner Einrichtung hervorgehen. Wir müssen aber auch Laurent in der Ver¬ theidigung des freien menschlichen Willens zustimmen, wenn er vom sittlichen Fortschritt der Gesellschaft sagt: „Wer ist denn der Urheber dieses Fort¬ schritts? Es ist der Mensch. Wenn die Materie besiegt und die Natur be¬ zwungen ist, wenn die Wissenschaft die Unendlichkeit der Himmel erforscht, wenn sie die Geheimnisse der Schöpfung offenbart, wenn die Staaten auf der Grundlage der Freiheit und Gleichheit organisirt werden, so werden diese Fort¬ schritte sicherlich nur der Thätigkeit des Menschen verdankt." Ja, Laurent hat gar nicht nöthig, so abstrakt vom Menschen zu sprechen; dieser Fortschritt wird meist einzelnen hervorragenden Menschen verdankt, den Bahnbrechern des Fort¬ schritts. Aber eine Bedingung darf dabei nicht verschwiegen werden, diejenige nämlich, daß der einzelne Mensch gemeinnützig wirken muß, wenn seine indi¬ viduelle Superiorität der Gesellschaft zu gute kommen soll. Die Verbreitung sittlicher und geistiger Bildung ist, wie das Licht, das Prometheus vom Himmel geholt: Wir theilen es Anderen mit, ohne selbst davon etwas zu ver¬ lieren. Die tiefe Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesellschaft, in der er lebt mit allen Wurzeln seines Seins, sollte Jeden abhalten, in einsiedlerischer Selbstentwickelung nur sich selbst zu genügen. Ein hoher geistiger Aristokra¬ tismus, sich abschließend in harmonischer Ausbildung der eigenen Individua¬ lität, kann ausnahmsweise große Normalmenschen erzeugen, wie Goethe. Einpfeh- lenswerth als Beispiel ist dies Verhalten aber nicht. Mag Rückert es mit den Worten zu entschuldigen scheinen: Wenn die Rose selbst sich schmückt. Schmückt sie auch den Garten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/268>, abgerufen am 20.10.2024.