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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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hat der Verfasser in folgenden Erfahrungssätzen zusammengefaßt, die des
Nachdenkens und weiterer Forschungen im höchsten Grade werth erscheinen.

1. ) Wo die Organisation schon in der Struktur leidet, wie bei Blödsinn,
Wahnsinn und organischer Schwäche, wie bei vielen Krankheiten, da ist die
Erblichkeit der vorherrschende Faktor für die Bestimmung des Lebenslaufes,
aber sie ist selbst dann fähig, einschneidend zum Bessern oder schlimmern
dnrch den Charakter der Umgebung verändert zu werden. Mit anderen Worten:
die körperliche und die geistige Fähigkeit wird nur durch Erblichkeit beschränkt
und bestimmt, wahrscheinlich, weil diese Bedingungen im Gehirn schon in der
Entwickelung vor der Geburt befestigt worden sind.

2. ) Wo die Aufführung von der Kenntniß der sittlichen Pflichten abhängt
(mit Ausschluß von Wahnsinn und Blödsinn), da hat die Umgebung mehr Ein¬
fluß als die Erblichkeit, da die Entwickelung der sittlichen Kräfte hauptsächlich
nach der Geburt stattfindet und nicht in einer Gehirnbildung vor der Geburt
begründet ist.

3. ) Das Streben der Erblichkeit ist darauf gerichtet, eine die Erblichkeit
fortsetzende Umgebung zu schaffen: ausschweifende Eltern geben ein Beispiel,
das wesentlich zur Befestigung ausschweifender Gewohnheiten bei den Kindern
beiträgt. Die Besserung liegt im Wechsel der Umgebung. Wo erbliche Diebs¬
sucht vorhanden, wird dann, wenn die Umgebung als anregende Ursache wirkt,
das Individuum zum unverbesserlichen Diebe; wo es vor der Versuchung
geschützt bleibt, kann es ein ehrliches Leben führen mit einiger Aussicht, die
Erblichkeit mit sich selbst abzuschneiden.

4. ) Die Umgebung strebt, Gewohnheiten zu erzeugen, welche erblich werden
können, besonders bei Pauperismus und Ausschweifung, in dem Falle, daß
diese dauernd genug einwirken, um eine Veränderung des Gehirns hervorzu¬
bringen. Sind aber diese Schlüsse richtig, so wird die ganze Frage einer
Beherrschung des Verbrechens und der Armuth in weiten Grenzen eine mög¬
liche, insofern nur die nöthige Zucht über zwei bis drei Generationen erstreckt
werden kann. >,

5. ) Die logische Schlußfolgerung aus den obigen Betrachtungen scheint
hiernach die zu sein, daß die Umgebung der letzte kontrolirende Faktor für die
Bestimmung der Lebensläufe sei, da man Erblichkeit als solche als organisirtes
Resultat der Umgebung ansehen muß. Die Dauerhaftigkeit vorelterlicher Typen
ist nur ein anderer Beweis für die Befestigung der Einflüsse der Umgebung,
welche mit Nothwendigkeit zur Entwickelung typischer Charaktere sühren.

So weit unser Statistiker. Wo die Quellen der Abhilfe für die sozialen
Uebel zu suchen find, welche mitten im Schooße zivilisirter Volksgemeinden
immer mächtiger anwachsende Geschlechter von verkommenen Armen und ver-


hat der Verfasser in folgenden Erfahrungssätzen zusammengefaßt, die des
Nachdenkens und weiterer Forschungen im höchsten Grade werth erscheinen.

1. ) Wo die Organisation schon in der Struktur leidet, wie bei Blödsinn,
Wahnsinn und organischer Schwäche, wie bei vielen Krankheiten, da ist die
Erblichkeit der vorherrschende Faktor für die Bestimmung des Lebenslaufes,
aber sie ist selbst dann fähig, einschneidend zum Bessern oder schlimmern
dnrch den Charakter der Umgebung verändert zu werden. Mit anderen Worten:
die körperliche und die geistige Fähigkeit wird nur durch Erblichkeit beschränkt
und bestimmt, wahrscheinlich, weil diese Bedingungen im Gehirn schon in der
Entwickelung vor der Geburt befestigt worden sind.

2. ) Wo die Aufführung von der Kenntniß der sittlichen Pflichten abhängt
(mit Ausschluß von Wahnsinn und Blödsinn), da hat die Umgebung mehr Ein¬
fluß als die Erblichkeit, da die Entwickelung der sittlichen Kräfte hauptsächlich
nach der Geburt stattfindet und nicht in einer Gehirnbildung vor der Geburt
begründet ist.

3. ) Das Streben der Erblichkeit ist darauf gerichtet, eine die Erblichkeit
fortsetzende Umgebung zu schaffen: ausschweifende Eltern geben ein Beispiel,
das wesentlich zur Befestigung ausschweifender Gewohnheiten bei den Kindern
beiträgt. Die Besserung liegt im Wechsel der Umgebung. Wo erbliche Diebs¬
sucht vorhanden, wird dann, wenn die Umgebung als anregende Ursache wirkt,
das Individuum zum unverbesserlichen Diebe; wo es vor der Versuchung
geschützt bleibt, kann es ein ehrliches Leben führen mit einiger Aussicht, die
Erblichkeit mit sich selbst abzuschneiden.

4. ) Die Umgebung strebt, Gewohnheiten zu erzeugen, welche erblich werden
können, besonders bei Pauperismus und Ausschweifung, in dem Falle, daß
diese dauernd genug einwirken, um eine Veränderung des Gehirns hervorzu¬
bringen. Sind aber diese Schlüsse richtig, so wird die ganze Frage einer
Beherrschung des Verbrechens und der Armuth in weiten Grenzen eine mög¬
liche, insofern nur die nöthige Zucht über zwei bis drei Generationen erstreckt
werden kann. >,

5. ) Die logische Schlußfolgerung aus den obigen Betrachtungen scheint
hiernach die zu sein, daß die Umgebung der letzte kontrolirende Faktor für die
Bestimmung der Lebensläufe sei, da man Erblichkeit als solche als organisirtes
Resultat der Umgebung ansehen muß. Die Dauerhaftigkeit vorelterlicher Typen
ist nur ein anderer Beweis für die Befestigung der Einflüsse der Umgebung,
welche mit Nothwendigkeit zur Entwickelung typischer Charaktere sühren.

So weit unser Statistiker. Wo die Quellen der Abhilfe für die sozialen
Uebel zu suchen find, welche mitten im Schooße zivilisirter Volksgemeinden
immer mächtiger anwachsende Geschlechter von verkommenen Armen und ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/266>, abgerufen am 27.09.2024.