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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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ganze umgebende Welt des Einzelnen können sich zu einer Macht häufen,
welche wie ein bestimmendes Schicksal erscheint, welche ganze Generationen zu
Wohlstand und Bildung oder zu Elend, Verkommenheit und Verbrechen zu
prüdestiniren scheint, und dies wirklich bis zu einem gewissen Grade thut.

Diesem Schicksal Richtung und Inhalt zu geben, liegt wiederum im Be¬
reich der Kraft des freien menschlichen Willens. Hier setzt die große refor¬
matorische Kraft, wie sie.von einzelnen großgesinnten Geistern oder oft nur
von einem hervorragenden gewaltigen Manne ausgeht, die intellektuellen Hebel
ein; hier erscheint die große kulturschaffende Kraft der Individualität. Diese
ist eben nicht mehr zu erklären, und das sollte man offen gestehen; aber es ist
wichtig, sie in ihrer Tragweite zu würdigen. Die Erscheinungen, in denen sie
sich in Zeit und Raum der Geschichte erweist, gehören zu den überraschendsten.
Man vergleiche unsere Zeit mit der der italienischen Renaissance. Dort sehen
wir die ungünstigsten äußeren Bedingungen für die menschliche Kultur, die
man sich denken kann. Despotische Gewalt großer und kleiner Fürsten, unauf¬
hörliche blutige politische Kämpfe von Land zu Land, von Stadt zu Stadt,
größte Rohheit und Versunkenheit in Aberglauben beim niederen Volke, Fri¬
volität, rassinirteste Genußsucht, rücksichtsloseste Bereitschaft zu jedem Verbrechen
um des Vortheils willen bei den höheren Klassen, dem Adel, der Geistlichkeit
und den reichen Bürgern -- und bei alledem und trotz alledem eine erstaun¬
liche Fülle an großen gewaltigen Geistern in Wissenschaft und Kunst, bahn¬
brechende Kapazitäten auf allen Gebieten, Leistungen der höheren Kultur,
welche noch heute als Fundamente und Muster der unsrigen gelten. Nun ver¬
gleiche man die äußeren, also die, wie man annimmt, Charakter und Geist
bildenden Verhältnisse jener Zeit mit den unsrigen, mit der Sicherheit der
Person und des Eigenthums, der geordneten Staatsverwaltung, der Ausbildung
des Schulwesens für alle Zweige menschlicher Thätigkeit, der hohen Entwicke¬
lung unserer Technik und unseres Verkehrswesens, der allgemeineren Herrschaft
menschlicher Gesittung -- und wo sind die großen Resultate in der Erzeugung
bedeutender, allen diesen bildenden Agentien entsprechender Individualitäten?
Wenn wir einzelne große Gelehrte, Staatsmänner und Künstler, wenn wir die
großen Erfolge namentlich in den Naturwissenschaften nicht aufzuweisen hätten'--
eine im Verhältniß zu jener Zeit und jenen kleinen Ländern recht bedenkliche
Armuth an hochstrebenden geistigen Kräften, an gewachsenen großen Indivi¬
dualitäten, an Begabungen von Gottes Gnaden. Unsere erfahrensten und
hochgebildetsten Schulmänner bekennen es offen, daß trotz der Fülle des der
Jugend zugeführten Lehrstoffes die geistige Strebsamkeit, die schöpferische Kraft
unserer Jugend sich zu verringern scheine, daß die Schablonenmenschen zuneh¬
men, die Individualitäten abnehmen.


ganze umgebende Welt des Einzelnen können sich zu einer Macht häufen,
welche wie ein bestimmendes Schicksal erscheint, welche ganze Generationen zu
Wohlstand und Bildung oder zu Elend, Verkommenheit und Verbrechen zu
prüdestiniren scheint, und dies wirklich bis zu einem gewissen Grade thut.

Diesem Schicksal Richtung und Inhalt zu geben, liegt wiederum im Be¬
reich der Kraft des freien menschlichen Willens. Hier setzt die große refor¬
matorische Kraft, wie sie.von einzelnen großgesinnten Geistern oder oft nur
von einem hervorragenden gewaltigen Manne ausgeht, die intellektuellen Hebel
ein; hier erscheint die große kulturschaffende Kraft der Individualität. Diese
ist eben nicht mehr zu erklären, und das sollte man offen gestehen; aber es ist
wichtig, sie in ihrer Tragweite zu würdigen. Die Erscheinungen, in denen sie
sich in Zeit und Raum der Geschichte erweist, gehören zu den überraschendsten.
Man vergleiche unsere Zeit mit der der italienischen Renaissance. Dort sehen
wir die ungünstigsten äußeren Bedingungen für die menschliche Kultur, die
man sich denken kann. Despotische Gewalt großer und kleiner Fürsten, unauf¬
hörliche blutige politische Kämpfe von Land zu Land, von Stadt zu Stadt,
größte Rohheit und Versunkenheit in Aberglauben beim niederen Volke, Fri¬
volität, rassinirteste Genußsucht, rücksichtsloseste Bereitschaft zu jedem Verbrechen
um des Vortheils willen bei den höheren Klassen, dem Adel, der Geistlichkeit
und den reichen Bürgern — und bei alledem und trotz alledem eine erstaun¬
liche Fülle an großen gewaltigen Geistern in Wissenschaft und Kunst, bahn¬
brechende Kapazitäten auf allen Gebieten, Leistungen der höheren Kultur,
welche noch heute als Fundamente und Muster der unsrigen gelten. Nun ver¬
gleiche man die äußeren, also die, wie man annimmt, Charakter und Geist
bildenden Verhältnisse jener Zeit mit den unsrigen, mit der Sicherheit der
Person und des Eigenthums, der geordneten Staatsverwaltung, der Ausbildung
des Schulwesens für alle Zweige menschlicher Thätigkeit, der hohen Entwicke¬
lung unserer Technik und unseres Verkehrswesens, der allgemeineren Herrschaft
menschlicher Gesittung — und wo sind die großen Resultate in der Erzeugung
bedeutender, allen diesen bildenden Agentien entsprechender Individualitäten?
Wenn wir einzelne große Gelehrte, Staatsmänner und Künstler, wenn wir die
großen Erfolge namentlich in den Naturwissenschaften nicht aufzuweisen hätten'—
eine im Verhältniß zu jener Zeit und jenen kleinen Ländern recht bedenkliche
Armuth an hochstrebenden geistigen Kräften, an gewachsenen großen Indivi¬
dualitäten, an Begabungen von Gottes Gnaden. Unsere erfahrensten und
hochgebildetsten Schulmänner bekennen es offen, daß trotz der Fülle des der
Jugend zugeführten Lehrstoffes die geistige Strebsamkeit, die schöpferische Kraft
unserer Jugend sich zu verringern scheine, daß die Schablonenmenschen zuneh¬
men, die Individualitäten abnehmen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/236>, abgerufen am 19.10.2024.