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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Vielmehr stimmen wir Kym völlig bei, wenn er das Sittengesetz nicht
zeitlich, sondern nur begrifflich als dem Handeln vorangehend bezeichnet, un¬
mittelbar durch die Handlung aber auch in das Bewußtsein des Handelnden
treten läßt. Der Charakter der Allgemeinheit, welcher der sittlichen Norm eigen
ist, verbietet es, sie als von außen stammend anzusehen, er nöthigt, in der
Seele selbst ihren Ursprung zu suchen; dagegen ist die Entwickelung der sitt¬
lichen Idee im Bewußtsein durch eine Reihe von Erfahrungen bedingt, wie
sie allmählich im zeitlichen Verlause gemacht werden. Durch die einzelnen
Akte, in welcher das Subjekt das von außen gegebene Material unter die
allgemeine Idee subsumirt, erweitert sich das sittliche Bewußtsein, das wir
also als ideal begründet, aber empirisch bedingt zu betrachten haben; es er¬
weitert sich, aber es vertieft sich auch, indem, was ursprünglich nur durch
ein instinktartig wirksames Gefühl vernommen wurde, immer mehr in das
klare Licht der Erkenntniß tritt.

Es gibt allerdings auch eine ausschließliche Herrschaft der Sinnlichkeit über
den Menschen, aber diese währt zu kurze Zeit, als daß daraus der sittlichen
Entwickelung Schaden erwachsen könnte. Wir denken an die dem Erwachen
des Selbstbewußtseins vorangehende unbedingte Thätigkeit des sinnlichen Be¬
wußtseins. Sehen wir aber von diesem Entwickelungsstadium ab, so findet
sich immer beides mit einander verbunden, das sinnliche und das geistig-ethische
Element, und jenes zeigt sich keineswegs in einer Stärke, durch welche es den
Einfluß dieses gefährden müßte. Vielmehr fällt die Machtentfaltung der
Sinnlichkeit in eine Zeit, in welcher bei normaler Entwickelung sich schon ein
kritisches sittliches Bewußtsein gestaltet hat. Man wird daher auf einen Vor¬
sprung des sinnlichen Bewußtseins, der so kurz bemessen ist, keinen Werth
legen dürfen.

Wenn wir nun die unmittelbar darauf folgende Bildungsperiode des
Menschen ebenfalls als eine durch die Sinnlichkeit bestimmte charakterisiren,
so geschieht das nicht in der Meinung, daß während derselben der Einfluß des
sittlichen Faktors unzureichender sei und dieses Stadium selbst der sittlichen
Norm widerspreche, sondern nur, um die Bestrebungen, Interessen und Ge¬
sichtskreise, die für das Denken und Wollen dann maßgebend sind, zu bezeichnen.
Diese bilden aber eine normale und naturgemäße Entwickelungsstufe, die dem
kindlichen Alter angemessen und entsprechend ist. Die sittliche Reinheit des
Kindes wird ja nicht dadurch gestört, daß es überwiegend sinnlichen Begeh-
rungen zugewandt ist, sondern nur dadurch, daß es den regelnden Schranken
sich entzieht, welche die sittliche Norm in Bezug auf die Befriedigung dieser
Begierden aufrichtet.

Eine andere Frage ist es, ob wir den Irrthum auf sittlichem Gebiete


Vielmehr stimmen wir Kym völlig bei, wenn er das Sittengesetz nicht
zeitlich, sondern nur begrifflich als dem Handeln vorangehend bezeichnet, un¬
mittelbar durch die Handlung aber auch in das Bewußtsein des Handelnden
treten läßt. Der Charakter der Allgemeinheit, welcher der sittlichen Norm eigen
ist, verbietet es, sie als von außen stammend anzusehen, er nöthigt, in der
Seele selbst ihren Ursprung zu suchen; dagegen ist die Entwickelung der sitt¬
lichen Idee im Bewußtsein durch eine Reihe von Erfahrungen bedingt, wie
sie allmählich im zeitlichen Verlause gemacht werden. Durch die einzelnen
Akte, in welcher das Subjekt das von außen gegebene Material unter die
allgemeine Idee subsumirt, erweitert sich das sittliche Bewußtsein, das wir
also als ideal begründet, aber empirisch bedingt zu betrachten haben; es er¬
weitert sich, aber es vertieft sich auch, indem, was ursprünglich nur durch
ein instinktartig wirksames Gefühl vernommen wurde, immer mehr in das
klare Licht der Erkenntniß tritt.

Es gibt allerdings auch eine ausschließliche Herrschaft der Sinnlichkeit über
den Menschen, aber diese währt zu kurze Zeit, als daß daraus der sittlichen
Entwickelung Schaden erwachsen könnte. Wir denken an die dem Erwachen
des Selbstbewußtseins vorangehende unbedingte Thätigkeit des sinnlichen Be¬
wußtseins. Sehen wir aber von diesem Entwickelungsstadium ab, so findet
sich immer beides mit einander verbunden, das sinnliche und das geistig-ethische
Element, und jenes zeigt sich keineswegs in einer Stärke, durch welche es den
Einfluß dieses gefährden müßte. Vielmehr fällt die Machtentfaltung der
Sinnlichkeit in eine Zeit, in welcher bei normaler Entwickelung sich schon ein
kritisches sittliches Bewußtsein gestaltet hat. Man wird daher auf einen Vor¬
sprung des sinnlichen Bewußtseins, der so kurz bemessen ist, keinen Werth
legen dürfen.

Wenn wir nun die unmittelbar darauf folgende Bildungsperiode des
Menschen ebenfalls als eine durch die Sinnlichkeit bestimmte charakterisiren,
so geschieht das nicht in der Meinung, daß während derselben der Einfluß des
sittlichen Faktors unzureichender sei und dieses Stadium selbst der sittlichen
Norm widerspreche, sondern nur, um die Bestrebungen, Interessen und Ge¬
sichtskreise, die für das Denken und Wollen dann maßgebend sind, zu bezeichnen.
Diese bilden aber eine normale und naturgemäße Entwickelungsstufe, die dem
kindlichen Alter angemessen und entsprechend ist. Die sittliche Reinheit des
Kindes wird ja nicht dadurch gestört, daß es überwiegend sinnlichen Begeh-
rungen zugewandt ist, sondern nur dadurch, daß es den regelnden Schranken
sich entzieht, welche die sittliche Norm in Bezug auf die Befriedigung dieser
Begierden aufrichtet.

Eine andere Frage ist es, ob wir den Irrthum auf sittlichem Gebiete


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[0184] Vielmehr stimmen wir Kym völlig bei, wenn er das Sittengesetz nicht zeitlich, sondern nur begrifflich als dem Handeln vorangehend bezeichnet, un¬ mittelbar durch die Handlung aber auch in das Bewußtsein des Handelnden treten läßt. Der Charakter der Allgemeinheit, welcher der sittlichen Norm eigen ist, verbietet es, sie als von außen stammend anzusehen, er nöthigt, in der Seele selbst ihren Ursprung zu suchen; dagegen ist die Entwickelung der sitt¬ lichen Idee im Bewußtsein durch eine Reihe von Erfahrungen bedingt, wie sie allmählich im zeitlichen Verlause gemacht werden. Durch die einzelnen Akte, in welcher das Subjekt das von außen gegebene Material unter die allgemeine Idee subsumirt, erweitert sich das sittliche Bewußtsein, das wir also als ideal begründet, aber empirisch bedingt zu betrachten haben; es er¬ weitert sich, aber es vertieft sich auch, indem, was ursprünglich nur durch ein instinktartig wirksames Gefühl vernommen wurde, immer mehr in das klare Licht der Erkenntniß tritt. Es gibt allerdings auch eine ausschließliche Herrschaft der Sinnlichkeit über den Menschen, aber diese währt zu kurze Zeit, als daß daraus der sittlichen Entwickelung Schaden erwachsen könnte. Wir denken an die dem Erwachen des Selbstbewußtseins vorangehende unbedingte Thätigkeit des sinnlichen Be¬ wußtseins. Sehen wir aber von diesem Entwickelungsstadium ab, so findet sich immer beides mit einander verbunden, das sinnliche und das geistig-ethische Element, und jenes zeigt sich keineswegs in einer Stärke, durch welche es den Einfluß dieses gefährden müßte. Vielmehr fällt die Machtentfaltung der Sinnlichkeit in eine Zeit, in welcher bei normaler Entwickelung sich schon ein kritisches sittliches Bewußtsein gestaltet hat. Man wird daher auf einen Vor¬ sprung des sinnlichen Bewußtseins, der so kurz bemessen ist, keinen Werth legen dürfen. Wenn wir nun die unmittelbar darauf folgende Bildungsperiode des Menschen ebenfalls als eine durch die Sinnlichkeit bestimmte charakterisiren, so geschieht das nicht in der Meinung, daß während derselben der Einfluß des sittlichen Faktors unzureichender sei und dieses Stadium selbst der sittlichen Norm widerspreche, sondern nur, um die Bestrebungen, Interessen und Ge¬ sichtskreise, die für das Denken und Wollen dann maßgebend sind, zu bezeichnen. Diese bilden aber eine normale und naturgemäße Entwickelungsstufe, die dem kindlichen Alter angemessen und entsprechend ist. Die sittliche Reinheit des Kindes wird ja nicht dadurch gestört, daß es überwiegend sinnlichen Begeh- rungen zugewandt ist, sondern nur dadurch, daß es den regelnden Schranken sich entzieht, welche die sittliche Norm in Bezug auf die Befriedigung dieser Begierden aufrichtet. Eine andere Frage ist es, ob wir den Irrthum auf sittlichem Gebiete

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/184>, abgerufen am 27.09.2024.