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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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befolgte, sagt er: "Wo es sich um Aussagen handelt, werden stets die eines
Augenzeugen am glaubwürdigsten sein, zumal, wenn dieser ein ehrenwerther,
beobachtungsfähiger, verständiger Mann ist, wenn er seine Wahrnehmungen an
Ort und Stelle, ohne Verzug und unter dem Eindruck der Ereignisse nieder¬
schreibe, wenn sein einziger Zweck darin besteht, über das Beobachtete Bericht
abzustatten, wenn seine Arbeit keine zu Gunsten oder Ungunsten irgend einer
Sache geschriebene tendenziöse Polemik enthält, wenn sie keine auf die große
Masse berechnete Rhetorik zeigt, sondern eine gerichtliche Zeugenaussage, ein
geheimer Bericht, eine vertrauliche Depesche, ein Privatbrief oder etwas Aehn-
liches ist." Urkunden dieser Art hat Taine im französischen Nationalarchiv
in Menge gefunden, besonders in den handschriftlichen Korrespondenzen der
Minister, der Intendanten, der Richter, der Militärbefehlshaber, der Gensdar-
merie-Offiziere, der Kommissäre des Königs und des Parlamentes, der Depar¬
tements-, Bezirks- und Gemeindevorstände und anderer Beamten, sowie in den
Briefen von Privatleuten an den König, die Nationalversammlung und die
Ministerien. Zu diesen Dokumenten haben alle Schichten der französischen
Bevölkerung, alle Stände, Parteien und Bildungsgrade ihre Beiträge geliefert,
dieselben kommen aus den verschiedensten Gegenden Frankreich's, jeder Bericht¬
erstatter hat für sich, nicht im EinVerständniß mit Anderen geschrieben. Diese
Leute waren größtentheils in der Lage, sich genaue Nachrichten zu verschaffen.
Keiner dachte bei Abfassung seines Briefes oder Aufsatzes an literarischen Er¬
folg , denn keiner glaubte auch nur entfernt, daß seine Zuschrift jemals gedruckt
werden würde. Sie brachten ihre Mittheilungen unmittelbar unter dem Eindrucke
der örtlichen Vorkommnisse zu Papier. Ihr Zeugniß ist daher ein Beweismittel
ersten Ranges aus erster Hand, und mit ihm lassen sich alle anderen Aussagen
kontroliren. Taine thut dies, und um noch sicherer zu gehen, läßt er diese
Berichterstatter, soweit es thunlich, selbst reden, sodaß der Leser in den Stand
gesetzt ist, sich über Alles ein eigenes Urtheil zu bilden. Wenn wir daraus
zuweilen andere Schlüsse ziehen als der Verfasser und hie und da von seinem
Urtheil über Personen, Zustände und Ereignisse wesentlich abweichen zu müssen
glauben, wenn wir finden, daß er Manches übersieht, Manches größer oder
kleiner sieht, als es bei genauer Betrachtung erscheint, so müssen wir doch
immer sein redliches Streben nach Wahrheit anerkennen. Was auch die strenge
Wissenschaft an den Ergebnissen seiner Forschung auszusetzen haben mag,
niemand wird ihm zwei große Tugenden abzusprechen vermögen: Mbe zur
Gerechtigkeit und Sinn für Billigkeit/ und fo wollen wir auch diesen Band
seines Werkes angelegentlich empfohlen haben. Ueber den Werth der deutschen
Bearbeitung ist, wenn wir uns recht erinnern, schon früher bei Besprechung
des ersten Bandes das Nöthige bemerkt worden.


befolgte, sagt er: „Wo es sich um Aussagen handelt, werden stets die eines
Augenzeugen am glaubwürdigsten sein, zumal, wenn dieser ein ehrenwerther,
beobachtungsfähiger, verständiger Mann ist, wenn er seine Wahrnehmungen an
Ort und Stelle, ohne Verzug und unter dem Eindruck der Ereignisse nieder¬
schreibe, wenn sein einziger Zweck darin besteht, über das Beobachtete Bericht
abzustatten, wenn seine Arbeit keine zu Gunsten oder Ungunsten irgend einer
Sache geschriebene tendenziöse Polemik enthält, wenn sie keine auf die große
Masse berechnete Rhetorik zeigt, sondern eine gerichtliche Zeugenaussage, ein
geheimer Bericht, eine vertrauliche Depesche, ein Privatbrief oder etwas Aehn-
liches ist." Urkunden dieser Art hat Taine im französischen Nationalarchiv
in Menge gefunden, besonders in den handschriftlichen Korrespondenzen der
Minister, der Intendanten, der Richter, der Militärbefehlshaber, der Gensdar-
merie-Offiziere, der Kommissäre des Königs und des Parlamentes, der Depar¬
tements-, Bezirks- und Gemeindevorstände und anderer Beamten, sowie in den
Briefen von Privatleuten an den König, die Nationalversammlung und die
Ministerien. Zu diesen Dokumenten haben alle Schichten der französischen
Bevölkerung, alle Stände, Parteien und Bildungsgrade ihre Beiträge geliefert,
dieselben kommen aus den verschiedensten Gegenden Frankreich's, jeder Bericht¬
erstatter hat für sich, nicht im EinVerständniß mit Anderen geschrieben. Diese
Leute waren größtentheils in der Lage, sich genaue Nachrichten zu verschaffen.
Keiner dachte bei Abfassung seines Briefes oder Aufsatzes an literarischen Er¬
folg , denn keiner glaubte auch nur entfernt, daß seine Zuschrift jemals gedruckt
werden würde. Sie brachten ihre Mittheilungen unmittelbar unter dem Eindrucke
der örtlichen Vorkommnisse zu Papier. Ihr Zeugniß ist daher ein Beweismittel
ersten Ranges aus erster Hand, und mit ihm lassen sich alle anderen Aussagen
kontroliren. Taine thut dies, und um noch sicherer zu gehen, läßt er diese
Berichterstatter, soweit es thunlich, selbst reden, sodaß der Leser in den Stand
gesetzt ist, sich über Alles ein eigenes Urtheil zu bilden. Wenn wir daraus
zuweilen andere Schlüsse ziehen als der Verfasser und hie und da von seinem
Urtheil über Personen, Zustände und Ereignisse wesentlich abweichen zu müssen
glauben, wenn wir finden, daß er Manches übersieht, Manches größer oder
kleiner sieht, als es bei genauer Betrachtung erscheint, so müssen wir doch
immer sein redliches Streben nach Wahrheit anerkennen. Was auch die strenge
Wissenschaft an den Ergebnissen seiner Forschung auszusetzen haben mag,
niemand wird ihm zwei große Tugenden abzusprechen vermögen: Mbe zur
Gerechtigkeit und Sinn für Billigkeit/ und fo wollen wir auch diesen Band
seines Werkes angelegentlich empfohlen haben. Ueber den Werth der deutschen
Bearbeitung ist, wenn wir uns recht erinnern, schon früher bei Besprechung
des ersten Bandes das Nöthige bemerkt worden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/121>, abgerufen am 19.10.2024.