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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Knochen in eine Quelle geworfen. Diese Sitte ist vorzüglich bei den Pomccken
des dürren Rhodopegebirges im Schwange. Hier lautet der Anfang des bei
dem Umzüge gesungenen Liedes folgendermaßen:


"Schmetterling, Flatterding!
Gieb Regen, Gott, gieb Segen, Gott."

Das Lied der christlichen Bulgaren Makedonien's dagegen hat Rosen in nach¬
stehender Uebersetzung wiedergegeben:


"Oj, ljule, oj!*X!
Geflogen kommt der Schmetterling,
Von Ackerndem zu Ackerndem,
Von Grabenden zu Grabenden,
Von Winzcrsmann zu Winzersmann
Daß auf uns than' der feine Thau,
Der feine Thau, der Früchte gibt.
Zu Lande fall' er und zur See,
Daß aller Anbau uns gedeih'.
Daß uns gedeihe Wein und Korn.
Der Weizen reiche bis an's Dach,
Die Gerste an die Regentrauf',
Aufwachse bis zum Gurt der Flachs,
Die Kichererbse bis an's Knie,
Daß Nahrung habe das arme Volk."

Wir sind hiermit bei den Volksliedern der Bulgaren angekommen, deren sie
nach Rosen einen "wahrhaft staunenerregenden Reichthum besitzen", und von
denen uns der obenerwähnte Gelehrte (der zuletzt deutscher Generalkonsul in
Belgrad war) eine Auswahl in wohlgelungenen Uebersetzungen mitgetheilt hat.
Man kennt jetzt gegen anderthalbtausend dieser Lieder, von denen einige sehr
lang sind, sodaß sie viele Bogen einnehmen, und doch ist der Schatz derselben,
wie die Sammler behaupten, damit noch lange nicht erschöpft. Vieles davon
ist nach Inhalt und Form unbedeutend und höchstens nach ethnographisch¬
psychologischer Seite von Werth, Anderes dagegen verdiente auch aus ästheti¬
schen Gründen aufbewahrt zu werden, wie die bekannten Lieder der Serben.
Ethnographisch wichtig ist, daß, wie bei den letzteren neben der poesiereichen
Herzegowina das Fürstenthum Serbien als das Land der Prosa bezeichnet
werden kann, es bei den Bulgaren ebenfalls die westlichen, also die Makedonier
und Südthrakier sind, welche die Dichtkunst vorzugsweise pflegen. Was im
Balkan und zwischen diesem und der Donau, also im eigentlichen Bulgarien
gesungen wird, reicht, wie Rosen sagt, weder seiner Masse noch seinem inneren
Werthe nach an das poetische Erzeugniß des Südens.

Die bulgarischen Lieder bilden nur einen Theil des größeren Schatzes von
Volkspoesieen, den man als den südslavischen bezeichnen kann, und zu dem die
bekannten von Goethe, Talvj, Gerhard und Kapper übersetzten serbischen Ge¬
sänge und die "Jatschke" der Nordkroaten gehören. Die gegenseitige Ueberein¬
stimmung dieser in Betreff der Oertlichkeit ihres Ursprungs sehr verschiedenen
Poesieen betrifft sowohl die in ihnen behandelten Gegenstände als ihren Ge¬
dankengang und ihre Form, ja sogar die in ihnen gebrauchten Ausdrücke und
Redewendungen. Der Gedanke, daß sie sich in Schrift oder Druck über die
drei Volksstämme der Südslaven verbreitet hätten, bleibt ausgeschlossen, da sie
in Kreisen entstanden und vor wenigen Jahren gesammelt worden sind, in denen
man bis vor Kurzem weder Papier noch Tinte kannte und noch weniger etwas



") Dieser Ausruf wiederholt sich nach jeder der folgenden Berszeilen.

Knochen in eine Quelle geworfen. Diese Sitte ist vorzüglich bei den Pomccken
des dürren Rhodopegebirges im Schwange. Hier lautet der Anfang des bei
dem Umzüge gesungenen Liedes folgendermaßen:


„Schmetterling, Flatterding!
Gieb Regen, Gott, gieb Segen, Gott."

Das Lied der christlichen Bulgaren Makedonien's dagegen hat Rosen in nach¬
stehender Uebersetzung wiedergegeben:


„Oj, ljule, oj!*X!
Geflogen kommt der Schmetterling,
Von Ackerndem zu Ackerndem,
Von Grabenden zu Grabenden,
Von Winzcrsmann zu Winzersmann
Daß auf uns than' der feine Thau,
Der feine Thau, der Früchte gibt.
Zu Lande fall' er und zur See,
Daß aller Anbau uns gedeih'.
Daß uns gedeihe Wein und Korn.
Der Weizen reiche bis an's Dach,
Die Gerste an die Regentrauf',
Aufwachse bis zum Gurt der Flachs,
Die Kichererbse bis an's Knie,
Daß Nahrung habe das arme Volk."

Wir sind hiermit bei den Volksliedern der Bulgaren angekommen, deren sie
nach Rosen einen „wahrhaft staunenerregenden Reichthum besitzen", und von
denen uns der obenerwähnte Gelehrte (der zuletzt deutscher Generalkonsul in
Belgrad war) eine Auswahl in wohlgelungenen Uebersetzungen mitgetheilt hat.
Man kennt jetzt gegen anderthalbtausend dieser Lieder, von denen einige sehr
lang sind, sodaß sie viele Bogen einnehmen, und doch ist der Schatz derselben,
wie die Sammler behaupten, damit noch lange nicht erschöpft. Vieles davon
ist nach Inhalt und Form unbedeutend und höchstens nach ethnographisch¬
psychologischer Seite von Werth, Anderes dagegen verdiente auch aus ästheti¬
schen Gründen aufbewahrt zu werden, wie die bekannten Lieder der Serben.
Ethnographisch wichtig ist, daß, wie bei den letzteren neben der poesiereichen
Herzegowina das Fürstenthum Serbien als das Land der Prosa bezeichnet
werden kann, es bei den Bulgaren ebenfalls die westlichen, also die Makedonier
und Südthrakier sind, welche die Dichtkunst vorzugsweise pflegen. Was im
Balkan und zwischen diesem und der Donau, also im eigentlichen Bulgarien
gesungen wird, reicht, wie Rosen sagt, weder seiner Masse noch seinem inneren
Werthe nach an das poetische Erzeugniß des Südens.

Die bulgarischen Lieder bilden nur einen Theil des größeren Schatzes von
Volkspoesieen, den man als den südslavischen bezeichnen kann, und zu dem die
bekannten von Goethe, Talvj, Gerhard und Kapper übersetzten serbischen Ge¬
sänge und die „Jatschke" der Nordkroaten gehören. Die gegenseitige Ueberein¬
stimmung dieser in Betreff der Oertlichkeit ihres Ursprungs sehr verschiedenen
Poesieen betrifft sowohl die in ihnen behandelten Gegenstände als ihren Ge¬
dankengang und ihre Form, ja sogar die in ihnen gebrauchten Ausdrücke und
Redewendungen. Der Gedanke, daß sie sich in Schrift oder Druck über die
drei Volksstämme der Südslaven verbreitet hätten, bleibt ausgeschlossen, da sie
in Kreisen entstanden und vor wenigen Jahren gesammelt worden sind, in denen
man bis vor Kurzem weder Papier noch Tinte kannte und noch weniger etwas



») Dieser Ausruf wiederholt sich nach jeder der folgenden Berszeilen.
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[0540] Knochen in eine Quelle geworfen. Diese Sitte ist vorzüglich bei den Pomccken des dürren Rhodopegebirges im Schwange. Hier lautet der Anfang des bei dem Umzüge gesungenen Liedes folgendermaßen: „Schmetterling, Flatterding! Gieb Regen, Gott, gieb Segen, Gott." Das Lied der christlichen Bulgaren Makedonien's dagegen hat Rosen in nach¬ stehender Uebersetzung wiedergegeben: „Oj, ljule, oj!*X! Geflogen kommt der Schmetterling, Von Ackerndem zu Ackerndem, Von Grabenden zu Grabenden, Von Winzcrsmann zu Winzersmann Daß auf uns than' der feine Thau, Der feine Thau, der Früchte gibt. Zu Lande fall' er und zur See, Daß aller Anbau uns gedeih'. Daß uns gedeihe Wein und Korn. Der Weizen reiche bis an's Dach, Die Gerste an die Regentrauf', Aufwachse bis zum Gurt der Flachs, Die Kichererbse bis an's Knie, Daß Nahrung habe das arme Volk." Wir sind hiermit bei den Volksliedern der Bulgaren angekommen, deren sie nach Rosen einen „wahrhaft staunenerregenden Reichthum besitzen", und von denen uns der obenerwähnte Gelehrte (der zuletzt deutscher Generalkonsul in Belgrad war) eine Auswahl in wohlgelungenen Uebersetzungen mitgetheilt hat. Man kennt jetzt gegen anderthalbtausend dieser Lieder, von denen einige sehr lang sind, sodaß sie viele Bogen einnehmen, und doch ist der Schatz derselben, wie die Sammler behaupten, damit noch lange nicht erschöpft. Vieles davon ist nach Inhalt und Form unbedeutend und höchstens nach ethnographisch¬ psychologischer Seite von Werth, Anderes dagegen verdiente auch aus ästheti¬ schen Gründen aufbewahrt zu werden, wie die bekannten Lieder der Serben. Ethnographisch wichtig ist, daß, wie bei den letzteren neben der poesiereichen Herzegowina das Fürstenthum Serbien als das Land der Prosa bezeichnet werden kann, es bei den Bulgaren ebenfalls die westlichen, also die Makedonier und Südthrakier sind, welche die Dichtkunst vorzugsweise pflegen. Was im Balkan und zwischen diesem und der Donau, also im eigentlichen Bulgarien gesungen wird, reicht, wie Rosen sagt, weder seiner Masse noch seinem inneren Werthe nach an das poetische Erzeugniß des Südens. Die bulgarischen Lieder bilden nur einen Theil des größeren Schatzes von Volkspoesieen, den man als den südslavischen bezeichnen kann, und zu dem die bekannten von Goethe, Talvj, Gerhard und Kapper übersetzten serbischen Ge¬ sänge und die „Jatschke" der Nordkroaten gehören. Die gegenseitige Ueberein¬ stimmung dieser in Betreff der Oertlichkeit ihres Ursprungs sehr verschiedenen Poesieen betrifft sowohl die in ihnen behandelten Gegenstände als ihren Ge¬ dankengang und ihre Form, ja sogar die in ihnen gebrauchten Ausdrücke und Redewendungen. Der Gedanke, daß sie sich in Schrift oder Druck über die drei Volksstämme der Südslaven verbreitet hätten, bleibt ausgeschlossen, da sie in Kreisen entstanden und vor wenigen Jahren gesammelt worden sind, in denen man bis vor Kurzem weder Papier noch Tinte kannte und noch weniger etwas ») Dieser Ausruf wiederholt sich nach jeder der folgenden Berszeilen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/540>, abgerufen am 23.07.2024.