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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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aber auf der anderen Seite wieder, wie Bettina bei ihrer Eitelkeit auf ihren Ver¬
kehr mit Goethe zu solchen Uebergriffen verleitet worden ist. Denn daß Goethe
thatsächlich Gedichte geschrieben hat, die für Bettina und nur für Bettina be¬
stimmt waren, ist eben so sicher. Und es ist dies doch ein Theil der Sonette.

Mögen die siebzehn Sonette Goethe's wirklich sämmtlich im Winter 1807
bis 1808 entstanden sein, als ihn in Jena im vorübergehenden Verkehre mit
Zacharias Werner im Frommann'schen Hause eine Art "Sonettenwnth" ergriffen
hatte, jedenfalls haben wir in diesen Sonetten drei durchaus verschiedene
Gruppen zu unterscheiden. Die eine Gruppe umfaßt die Nummern 11. "Ne¬
mesis", und 14. und 15. "Die Zweifelnden". Diese drei stehen in gar keinem
Verhältniß zu irgend einem Mädchen, sondern reflektiren einfach über die So¬
nettenfrage selbst; in den letzten beiden werden launig die Bedenken zurück¬
gewiesen, daß die Form des sonettes zu künstlich sei, als daß man Liebes¬
empfindungen darin aussprechen kWsse, in den ersten wird scherzhaft die Liebes-
sonettenwuth, welcher der Dichter verfallen, als Strafe für seine frühere
Verachtung dieser künstlichen Strophenform hingestellt. Eine zweite Gruppe um¬
faßt diejenigen Nummern, die an Minna Herzlich gerichtet find. Hierzu gehört
höchst wahrscheinlich 5. "Wachsthum", und ohne jeden Zweifel 12. "Christgeschenk",
16. "Epoche" und 17. "Charade". So bleibt denn eine dritte Gruppe von zehn
Nummern übrig, in denen keine direkt persönliche Beziehung zu erkennen ist.
In sechs von diesen zehn, 1. "Mächtiges Ueberraschen", 2. "Freundliches Be¬
gegnen", 3. "Kurz und gut", 6. "Reisezehrung", 7. "Abschied" und 13. "Warnung",
gibt der Dichter selbst seiner Liebe bald tief empfundenen, bald humoristischen
Ausdruck; die übrigen vier, 4. "Das Mädchen spricht", 8. "Die Liebende schreibt",
9. "Die Liebende abermals" und 10. "Sie kann nicht enden", legt er dem
liebenden Mädchen in den Mund. Von diesen zehn Sonetten meint nun
Düntzer, daß Goethe hier "die Liebessituation ersonnen" habe. Das ist natürlich
Goethe gegenüber geradezu eine ungeheuerliche Idee. Goethe, und eine Liebes¬
situation ersinnen! Entweder danken auch diese zehn, wie Schäfer annahm, ihre
Entstehung dem Verkehre mit Minna Herzlich, oder sie sind aus dem Verhältnisse
zu irgend einem anderen weiblichen Wesen entsprungen. Darüber kann doch
wohl für eiuen Goethe-Interpreten, der sich nicht begnügt, die Theile in der Hand
zu haben, wenn auch das geistige Band fehlt, nicht der leiseste Zweifel fein.
Darf man nun hier an Bettina denken?

Es erweckt ein schlimmes Vorurtheil gegen sie, daß sie sich einige der
Sonette anzumaßen versucht hat, die nachweislich auf Minna gedichtet sind.
Gleich an die Spitze des Briefwechsels stellt sie wie eine Art Motto 15. "Epoche",
in den Briefwechsel verflicht sie 5. "Wachsthum", das als Einlage aus einem
Briefe Goethe's an seine Mutter durch Vermittelung der letzteren an sie gelangt


aber auf der anderen Seite wieder, wie Bettina bei ihrer Eitelkeit auf ihren Ver¬
kehr mit Goethe zu solchen Uebergriffen verleitet worden ist. Denn daß Goethe
thatsächlich Gedichte geschrieben hat, die für Bettina und nur für Bettina be¬
stimmt waren, ist eben so sicher. Und es ist dies doch ein Theil der Sonette.

Mögen die siebzehn Sonette Goethe's wirklich sämmtlich im Winter 1807
bis 1808 entstanden sein, als ihn in Jena im vorübergehenden Verkehre mit
Zacharias Werner im Frommann'schen Hause eine Art „Sonettenwnth" ergriffen
hatte, jedenfalls haben wir in diesen Sonetten drei durchaus verschiedene
Gruppen zu unterscheiden. Die eine Gruppe umfaßt die Nummern 11. „Ne¬
mesis", und 14. und 15. „Die Zweifelnden". Diese drei stehen in gar keinem
Verhältniß zu irgend einem Mädchen, sondern reflektiren einfach über die So¬
nettenfrage selbst; in den letzten beiden werden launig die Bedenken zurück¬
gewiesen, daß die Form des sonettes zu künstlich sei, als daß man Liebes¬
empfindungen darin aussprechen kWsse, in den ersten wird scherzhaft die Liebes-
sonettenwuth, welcher der Dichter verfallen, als Strafe für seine frühere
Verachtung dieser künstlichen Strophenform hingestellt. Eine zweite Gruppe um¬
faßt diejenigen Nummern, die an Minna Herzlich gerichtet find. Hierzu gehört
höchst wahrscheinlich 5. „Wachsthum", und ohne jeden Zweifel 12. „Christgeschenk",
16. „Epoche" und 17. „Charade". So bleibt denn eine dritte Gruppe von zehn
Nummern übrig, in denen keine direkt persönliche Beziehung zu erkennen ist.
In sechs von diesen zehn, 1. „Mächtiges Ueberraschen", 2. „Freundliches Be¬
gegnen", 3. „Kurz und gut", 6. „Reisezehrung", 7. „Abschied" und 13. „Warnung",
gibt der Dichter selbst seiner Liebe bald tief empfundenen, bald humoristischen
Ausdruck; die übrigen vier, 4. „Das Mädchen spricht", 8. „Die Liebende schreibt",
9. „Die Liebende abermals" und 10. „Sie kann nicht enden", legt er dem
liebenden Mädchen in den Mund. Von diesen zehn Sonetten meint nun
Düntzer, daß Goethe hier „die Liebessituation ersonnen" habe. Das ist natürlich
Goethe gegenüber geradezu eine ungeheuerliche Idee. Goethe, und eine Liebes¬
situation ersinnen! Entweder danken auch diese zehn, wie Schäfer annahm, ihre
Entstehung dem Verkehre mit Minna Herzlich, oder sie sind aus dem Verhältnisse
zu irgend einem anderen weiblichen Wesen entsprungen. Darüber kann doch
wohl für eiuen Goethe-Interpreten, der sich nicht begnügt, die Theile in der Hand
zu haben, wenn auch das geistige Band fehlt, nicht der leiseste Zweifel fein.
Darf man nun hier an Bettina denken?

Es erweckt ein schlimmes Vorurtheil gegen sie, daß sie sich einige der
Sonette anzumaßen versucht hat, die nachweislich auf Minna gedichtet sind.
Gleich an die Spitze des Briefwechsels stellt sie wie eine Art Motto 15. „Epoche",
in den Briefwechsel verflicht sie 5. „Wachsthum", das als Einlage aus einem
Briefe Goethe's an seine Mutter durch Vermittelung der letzteren an sie gelangt


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[0446] aber auf der anderen Seite wieder, wie Bettina bei ihrer Eitelkeit auf ihren Ver¬ kehr mit Goethe zu solchen Uebergriffen verleitet worden ist. Denn daß Goethe thatsächlich Gedichte geschrieben hat, die für Bettina und nur für Bettina be¬ stimmt waren, ist eben so sicher. Und es ist dies doch ein Theil der Sonette. Mögen die siebzehn Sonette Goethe's wirklich sämmtlich im Winter 1807 bis 1808 entstanden sein, als ihn in Jena im vorübergehenden Verkehre mit Zacharias Werner im Frommann'schen Hause eine Art „Sonettenwnth" ergriffen hatte, jedenfalls haben wir in diesen Sonetten drei durchaus verschiedene Gruppen zu unterscheiden. Die eine Gruppe umfaßt die Nummern 11. „Ne¬ mesis", und 14. und 15. „Die Zweifelnden". Diese drei stehen in gar keinem Verhältniß zu irgend einem Mädchen, sondern reflektiren einfach über die So¬ nettenfrage selbst; in den letzten beiden werden launig die Bedenken zurück¬ gewiesen, daß die Form des sonettes zu künstlich sei, als daß man Liebes¬ empfindungen darin aussprechen kWsse, in den ersten wird scherzhaft die Liebes- sonettenwuth, welcher der Dichter verfallen, als Strafe für seine frühere Verachtung dieser künstlichen Strophenform hingestellt. Eine zweite Gruppe um¬ faßt diejenigen Nummern, die an Minna Herzlich gerichtet find. Hierzu gehört höchst wahrscheinlich 5. „Wachsthum", und ohne jeden Zweifel 12. „Christgeschenk", 16. „Epoche" und 17. „Charade". So bleibt denn eine dritte Gruppe von zehn Nummern übrig, in denen keine direkt persönliche Beziehung zu erkennen ist. In sechs von diesen zehn, 1. „Mächtiges Ueberraschen", 2. „Freundliches Be¬ gegnen", 3. „Kurz und gut", 6. „Reisezehrung", 7. „Abschied" und 13. „Warnung", gibt der Dichter selbst seiner Liebe bald tief empfundenen, bald humoristischen Ausdruck; die übrigen vier, 4. „Das Mädchen spricht", 8. „Die Liebende schreibt", 9. „Die Liebende abermals" und 10. „Sie kann nicht enden", legt er dem liebenden Mädchen in den Mund. Von diesen zehn Sonetten meint nun Düntzer, daß Goethe hier „die Liebessituation ersonnen" habe. Das ist natürlich Goethe gegenüber geradezu eine ungeheuerliche Idee. Goethe, und eine Liebes¬ situation ersinnen! Entweder danken auch diese zehn, wie Schäfer annahm, ihre Entstehung dem Verkehre mit Minna Herzlich, oder sie sind aus dem Verhältnisse zu irgend einem anderen weiblichen Wesen entsprungen. Darüber kann doch wohl für eiuen Goethe-Interpreten, der sich nicht begnügt, die Theile in der Hand zu haben, wenn auch das geistige Band fehlt, nicht der leiseste Zweifel fein. Darf man nun hier an Bettina denken? Es erweckt ein schlimmes Vorurtheil gegen sie, daß sie sich einige der Sonette anzumaßen versucht hat, die nachweislich auf Minna gedichtet sind. Gleich an die Spitze des Briefwechsels stellt sie wie eine Art Motto 15. „Epoche", in den Briefwechsel verflicht sie 5. „Wachsthum", das als Einlage aus einem Briefe Goethe's an seine Mutter durch Vermittelung der letzteren an sie gelangt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/446>, abgerufen am 26.08.2024.