Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueberzeugung werde er jetzt durchführen. Wenn man ihm den Vorwurf
des Dilettantismus entgegen schleudere, so erinnere er daran, daß er beim
Eintritt in's Ministeramt in' Bezug auf jede politische Befähigung so beur¬
theilt worden sei, wie jetzt in Bezug auf die wirthschaftspolitische. Der Kanzler
schloß mit dem Appell: nicht an die Nachwelt, dieser Anruf sei ihm zu pathetisch,
sondern an die Mitbürger. Es ist die Bescheidenheit des berechtigten Selbst¬
gefühls, welches bei normaler Lebensdauer das Widerstreben der Mitwelt zum
zweiten Male zu bekehren und -- zu beschämen hofft. Doch heischt dieser Ge¬
dankengang noch eine Ergänzung. Nicht zufällig durch Delbrück's Abgang ist
der Reichskanzler zur Beschäftigung mit der Wirthschaftspolitik gekommen,
sondern weil das von außen vollendete Werk nunmehr nach innen gesichert
werden mußte, und abermals hat nicht Delbrück's Abgang den Zugang zu
andern Bahnen der Handelspolitik frei gemacht, sondern die nach Ablauf der
Handelsverträge in allen Großstaaten ausschlaggebende Abneigung, diese Ver¬
träge auf den bisherigen Grundlagen fortzusetzen.

Staatsminister Delbrück antwortete noch einmal. Er suchte zahlenmäßig
die Wohlthaten der Handelsverträge nachzuweisen, ohne natürlich abzuleugnen,
daß das Ende ihrer Periode der allgemeine wirthschaftliche Nothstand geworden.
Da aber dieser Nothstand alle zivilisirten Länder mit den verschiedensten
Handelssystemen umfasse, so meinte Redner, könnten nicht die Handelsverträge
die Schuld tragen. Hierauf muß man wohl sagen, daß noch weniger eine
einzige unbekannte Ursache bei diesen verschiedenen Ländern und Systemen
denkbar ist. Es muß wohl ein Zusammentreffen verschiedener Ursachen sein,
und unter den letzteren könnten auch die Handelsverträge eine gewisse Stelle
einnehmen, nicht vermöge ihres allgemeinen, sondern vermöge ihres besonderen
Charakters. Trotz aller Zahlen, die der Redner vorzutragen wußte, kann die
ganz unbestimmt von ihm angedeutete Hoffnung auf allgemeine Besserung kein
Trost sein, noch viel weniger aber eine Befreiung für die verantwortliche Lei¬
tung der Handelspolitik von der Pflicht, die Ursachen unseres besonderen Noth¬
standes zu erkennen und die geeigneten Mittel gegen denselben vorzuschlagen.




Literatur.
Lucian und die Kyniker. Von Jakob Bernays. Mit einer Übersetzung der
Schrift Lucian's: Ueber das Ende des Peregrinus. Berlin, W. Hertz, 1879.

Das einseitige Interesse, welches die Unfrommen wegen der Verspottung
der christlichen Religion an der Lucian'schen Schrift über den bewegten Lebens¬
lauf des Peregrinus mit boshaftem Behagen genommen hatten, hat den geist¬
vollen Verfasser der vorliegenden Schrift veranlaßt, die gegen die Kyniker ge¬
richtete Haupt-Tendenz zu allgemeinerer Anerkennung zu bringen. Zuvörderst
gibt er in gedrängter Uebersicht einen sachlichen Ueberblick über den Gang der
Lucian'schen Schrift! und zeigt, daß sie in offener Feindseligkeit gegen die
lyrische Lebensrichtung in ihren damaligen Hauptvertretern Peregrinus und
Theageues Front macht. Ersterer wird von dem Epikureer Lucian als ein


Ueberzeugung werde er jetzt durchführen. Wenn man ihm den Vorwurf
des Dilettantismus entgegen schleudere, so erinnere er daran, daß er beim
Eintritt in's Ministeramt in' Bezug auf jede politische Befähigung so beur¬
theilt worden sei, wie jetzt in Bezug auf die wirthschaftspolitische. Der Kanzler
schloß mit dem Appell: nicht an die Nachwelt, dieser Anruf sei ihm zu pathetisch,
sondern an die Mitbürger. Es ist die Bescheidenheit des berechtigten Selbst¬
gefühls, welches bei normaler Lebensdauer das Widerstreben der Mitwelt zum
zweiten Male zu bekehren und — zu beschämen hofft. Doch heischt dieser Ge¬
dankengang noch eine Ergänzung. Nicht zufällig durch Delbrück's Abgang ist
der Reichskanzler zur Beschäftigung mit der Wirthschaftspolitik gekommen,
sondern weil das von außen vollendete Werk nunmehr nach innen gesichert
werden mußte, und abermals hat nicht Delbrück's Abgang den Zugang zu
andern Bahnen der Handelspolitik frei gemacht, sondern die nach Ablauf der
Handelsverträge in allen Großstaaten ausschlaggebende Abneigung, diese Ver¬
träge auf den bisherigen Grundlagen fortzusetzen.

Staatsminister Delbrück antwortete noch einmal. Er suchte zahlenmäßig
die Wohlthaten der Handelsverträge nachzuweisen, ohne natürlich abzuleugnen,
daß das Ende ihrer Periode der allgemeine wirthschaftliche Nothstand geworden.
Da aber dieser Nothstand alle zivilisirten Länder mit den verschiedensten
Handelssystemen umfasse, so meinte Redner, könnten nicht die Handelsverträge
die Schuld tragen. Hierauf muß man wohl sagen, daß noch weniger eine
einzige unbekannte Ursache bei diesen verschiedenen Ländern und Systemen
denkbar ist. Es muß wohl ein Zusammentreffen verschiedener Ursachen sein,
und unter den letzteren könnten auch die Handelsverträge eine gewisse Stelle
einnehmen, nicht vermöge ihres allgemeinen, sondern vermöge ihres besonderen
Charakters. Trotz aller Zahlen, die der Redner vorzutragen wußte, kann die
ganz unbestimmt von ihm angedeutete Hoffnung auf allgemeine Besserung kein
Trost sein, noch viel weniger aber eine Befreiung für die verantwortliche Lei¬
tung der Handelspolitik von der Pflicht, die Ursachen unseres besonderen Noth¬
standes zu erkennen und die geeigneten Mittel gegen denselben vorzuschlagen.




Literatur.
Lucian und die Kyniker. Von Jakob Bernays. Mit einer Übersetzung der
Schrift Lucian's: Ueber das Ende des Peregrinus. Berlin, W. Hertz, 1879.

Das einseitige Interesse, welches die Unfrommen wegen der Verspottung
der christlichen Religion an der Lucian'schen Schrift über den bewegten Lebens¬
lauf des Peregrinus mit boshaftem Behagen genommen hatten, hat den geist¬
vollen Verfasser der vorliegenden Schrift veranlaßt, die gegen die Kyniker ge¬
richtete Haupt-Tendenz zu allgemeinerer Anerkennung zu bringen. Zuvörderst
gibt er in gedrängter Uebersicht einen sachlichen Ueberblick über den Gang der
Lucian'schen Schrift! und zeigt, daß sie in offener Feindseligkeit gegen die
lyrische Lebensrichtung in ihren damaligen Hauptvertretern Peregrinus und
Theageues Front macht. Ersterer wird von dem Epikureer Lucian als ein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0369" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141780"/>
          <p xml:id="ID_1075" prev="#ID_1074"> Ueberzeugung werde er jetzt durchführen. Wenn man ihm den Vorwurf<lb/>
des Dilettantismus entgegen schleudere, so erinnere er daran, daß er beim<lb/>
Eintritt in's Ministeramt in' Bezug auf jede politische Befähigung so beur¬<lb/>
theilt worden sei, wie jetzt in Bezug auf die wirthschaftspolitische. Der Kanzler<lb/>
schloß mit dem Appell: nicht an die Nachwelt, dieser Anruf sei ihm zu pathetisch,<lb/>
sondern an die Mitbürger. Es ist die Bescheidenheit des berechtigten Selbst¬<lb/>
gefühls, welches bei normaler Lebensdauer das Widerstreben der Mitwelt zum<lb/>
zweiten Male zu bekehren und &#x2014; zu beschämen hofft. Doch heischt dieser Ge¬<lb/>
dankengang noch eine Ergänzung. Nicht zufällig durch Delbrück's Abgang ist<lb/>
der Reichskanzler zur Beschäftigung mit der Wirthschaftspolitik gekommen,<lb/>
sondern weil das von außen vollendete Werk nunmehr nach innen gesichert<lb/>
werden mußte, und abermals hat nicht Delbrück's Abgang den Zugang zu<lb/>
andern Bahnen der Handelspolitik frei gemacht, sondern die nach Ablauf der<lb/>
Handelsverträge in allen Großstaaten ausschlaggebende Abneigung, diese Ver¬<lb/>
träge auf den bisherigen Grundlagen fortzusetzen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1076"> Staatsminister Delbrück antwortete noch einmal. Er suchte zahlenmäßig<lb/>
die Wohlthaten der Handelsverträge nachzuweisen, ohne natürlich abzuleugnen,<lb/>
daß das Ende ihrer Periode der allgemeine wirthschaftliche Nothstand geworden.<lb/>
Da aber dieser Nothstand alle zivilisirten Länder mit den verschiedensten<lb/>
Handelssystemen umfasse, so meinte Redner, könnten nicht die Handelsverträge<lb/>
die Schuld tragen. Hierauf muß man wohl sagen, daß noch weniger eine<lb/>
einzige unbekannte Ursache bei diesen verschiedenen Ländern und Systemen<lb/>
denkbar ist. Es muß wohl ein Zusammentreffen verschiedener Ursachen sein,<lb/>
und unter den letzteren könnten auch die Handelsverträge eine gewisse Stelle<lb/>
einnehmen, nicht vermöge ihres allgemeinen, sondern vermöge ihres besonderen<lb/>
Charakters. Trotz aller Zahlen, die der Redner vorzutragen wußte, kann die<lb/>
ganz unbestimmt von ihm angedeutete Hoffnung auf allgemeine Besserung kein<lb/>
Trost sein, noch viel weniger aber eine Befreiung für die verantwortliche Lei¬<lb/>
tung der Handelspolitik von der Pflicht, die Ursachen unseres besonderen Noth¬<lb/>
standes zu erkennen und die geeigneten Mittel gegen denselben vorzuschlagen.</p><lb/>
          <note type="byline"/><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Literatur.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Lucian und die Kyniker. Von Jakob Bernays. Mit einer Übersetzung der<lb/>
Schrift Lucian's: Ueber das Ende des Peregrinus. Berlin, W. Hertz, 1879.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1077" next="#ID_1078"> Das einseitige Interesse, welches die Unfrommen wegen der Verspottung<lb/>
der christlichen Religion an der Lucian'schen Schrift über den bewegten Lebens¬<lb/>
lauf des Peregrinus mit boshaftem Behagen genommen hatten, hat den geist¬<lb/>
vollen Verfasser der vorliegenden Schrift veranlaßt, die gegen die Kyniker ge¬<lb/>
richtete Haupt-Tendenz zu allgemeinerer Anerkennung zu bringen. Zuvörderst<lb/>
gibt er in gedrängter Uebersicht einen sachlichen Ueberblick über den Gang der<lb/>
Lucian'schen Schrift! und zeigt, daß sie in offener Feindseligkeit gegen die<lb/>
lyrische Lebensrichtung in ihren damaligen Hauptvertretern Peregrinus und<lb/>
Theageues Front macht. Ersterer wird von dem Epikureer Lucian als ein</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0369] Ueberzeugung werde er jetzt durchführen. Wenn man ihm den Vorwurf des Dilettantismus entgegen schleudere, so erinnere er daran, daß er beim Eintritt in's Ministeramt in' Bezug auf jede politische Befähigung so beur¬ theilt worden sei, wie jetzt in Bezug auf die wirthschaftspolitische. Der Kanzler schloß mit dem Appell: nicht an die Nachwelt, dieser Anruf sei ihm zu pathetisch, sondern an die Mitbürger. Es ist die Bescheidenheit des berechtigten Selbst¬ gefühls, welches bei normaler Lebensdauer das Widerstreben der Mitwelt zum zweiten Male zu bekehren und — zu beschämen hofft. Doch heischt dieser Ge¬ dankengang noch eine Ergänzung. Nicht zufällig durch Delbrück's Abgang ist der Reichskanzler zur Beschäftigung mit der Wirthschaftspolitik gekommen, sondern weil das von außen vollendete Werk nunmehr nach innen gesichert werden mußte, und abermals hat nicht Delbrück's Abgang den Zugang zu andern Bahnen der Handelspolitik frei gemacht, sondern die nach Ablauf der Handelsverträge in allen Großstaaten ausschlaggebende Abneigung, diese Ver¬ träge auf den bisherigen Grundlagen fortzusetzen. Staatsminister Delbrück antwortete noch einmal. Er suchte zahlenmäßig die Wohlthaten der Handelsverträge nachzuweisen, ohne natürlich abzuleugnen, daß das Ende ihrer Periode der allgemeine wirthschaftliche Nothstand geworden. Da aber dieser Nothstand alle zivilisirten Länder mit den verschiedensten Handelssystemen umfasse, so meinte Redner, könnten nicht die Handelsverträge die Schuld tragen. Hierauf muß man wohl sagen, daß noch weniger eine einzige unbekannte Ursache bei diesen verschiedenen Ländern und Systemen denkbar ist. Es muß wohl ein Zusammentreffen verschiedener Ursachen sein, und unter den letzteren könnten auch die Handelsverträge eine gewisse Stelle einnehmen, nicht vermöge ihres allgemeinen, sondern vermöge ihres besonderen Charakters. Trotz aller Zahlen, die der Redner vorzutragen wußte, kann die ganz unbestimmt von ihm angedeutete Hoffnung auf allgemeine Besserung kein Trost sein, noch viel weniger aber eine Befreiung für die verantwortliche Lei¬ tung der Handelspolitik von der Pflicht, die Ursachen unseres besonderen Noth¬ standes zu erkennen und die geeigneten Mittel gegen denselben vorzuschlagen. Literatur. Lucian und die Kyniker. Von Jakob Bernays. Mit einer Übersetzung der Schrift Lucian's: Ueber das Ende des Peregrinus. Berlin, W. Hertz, 1879. Das einseitige Interesse, welches die Unfrommen wegen der Verspottung der christlichen Religion an der Lucian'schen Schrift über den bewegten Lebens¬ lauf des Peregrinus mit boshaftem Behagen genommen hatten, hat den geist¬ vollen Verfasser der vorliegenden Schrift veranlaßt, die gegen die Kyniker ge¬ richtete Haupt-Tendenz zu allgemeinerer Anerkennung zu bringen. Zuvörderst gibt er in gedrängter Uebersicht einen sachlichen Ueberblick über den Gang der Lucian'schen Schrift! und zeigt, daß sie in offener Feindseligkeit gegen die lyrische Lebensrichtung in ihren damaligen Hauptvertretern Peregrinus und Theageues Front macht. Ersterer wird von dem Epikureer Lucian als ein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/369
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/369>, abgerufen am 01.07.2024.