Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Augen fast aller Parteien verlor und im 19. nicht wiedergewonnen hat. Man
braucht indessen nicht zu den Liberalen oder gar zu den Radikalen zu gehen,
um das Zugeständniß zu vernehmen, daß die Gottesgelehrtheit, welche im
Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges herrschte, die Spuren des Verfalls
ebenso deutlich zeigt, wie die meisten übrigen Gebiete des geistigen Lebens.
Die Theologie war wieder scholastisch geworden; es herrschte in ihr die kalte,
trockne, subtile Formel; es war eine Erstarrung eingetreten, welche nicht nur'
die Freiheit des Gedankens und der wissenschaftlichen Forschung unterdrückte,
nicht nur einen Kepler, den großen Erforscher der Gesetze des Planetensystems,
zum Ketzer stempelte, sondern auch den Pulsschlag des religiösen Gefühls
hemmte. Das lebendige Schöpfen aus den heiligen Schriften hatte in der
theologischen Schule aufgehört, und anstatt des lebendigen Glaubens herrschte
in dieser ein selbstgefälliger, polternder Eifer für die sogenannte reine Lehre.
Inzwischen war echte praktisch-mystische Frömmigkeit nicht untergegangen; aber
gehemmt, gestört und verletzt dnrch jene steife, orthodvxistische Katheder- und
Kanzelweisheit, suchte und fand sie Ausdruck und Nahrung allein in den
klassischen Erbauungsschriften eines Joh. Arndt, eines Heinrich Müller und
eines Christian Scriver, vorzugsweise aber in der Poesie des kirchlichen und
überhaupt geistlichen Liedes. Der milde und doch starke Hauch lebendiger,
kindlicher, volksmüßiger, anspruchsloser, aber wahrer Frömmigkeit strömte aus
in deu Gebilden der Dichtkunst und fand in dieser wiederum Anregung. Diese
Thatsache gewinnt aber dadurch eine besondere Bedeutung, daß nicht nur die
Poesie die Zufluchtsstätte der Religion wurde, sondern nicht minder die Religion
das Asyl der wahren Dichtkunst; beide suchten sich gegenseitig. Im Ganzen
war auch die Dichtkunst steif, gelehrt, künstlich, bombastisch und doch hand¬
werksmäßig geworden. Als Vorbilder begannen die regelrechten Franzosen zu
gelten, außer diesen waren nicht die Griechen, auch nicht die klassischen römischen
Dichter maßgebend, sondern die gelehrten Nachahmer der Römer. Die Dicht¬
kunst galt für etwas Lernbares und wurde eben dadurch etwas Mechanisches
und äußerlich Technisches. Der einzige Ausdruck ganz wahrer, einfacher,
naturwüchsiger und doch innig zarter Empfindung war das evangelische Kirchen¬
lied; Namen wie Joh. Rist, Georg Neumark, Heinrich Albert und vor allen
Paul Gerhard beweisen es. Unter den späteren Früchten der deutschen geist¬
lichen Liederpoesie können auch einige Gesäuge Gellert's mit Achtung genannt
werden. Der Zeitgeist jedoch, in dessen Atmosphäre Gellert athmet, ist im
Allgemeinen bereits der einer neuen Periode, der Periode der Aufklärung.

Während dieser zweiten Periode finden wir Poesie und Religion im Grunde
in einem gespannten Verhältniß, aber nnr deshalb, weil die einflußreichsten
Theoretiker der Dichtkunst und die tonangebenden Literctten, d. h. Männer wie


Augen fast aller Parteien verlor und im 19. nicht wiedergewonnen hat. Man
braucht indessen nicht zu den Liberalen oder gar zu den Radikalen zu gehen,
um das Zugeständniß zu vernehmen, daß die Gottesgelehrtheit, welche im
Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges herrschte, die Spuren des Verfalls
ebenso deutlich zeigt, wie die meisten übrigen Gebiete des geistigen Lebens.
Die Theologie war wieder scholastisch geworden; es herrschte in ihr die kalte,
trockne, subtile Formel; es war eine Erstarrung eingetreten, welche nicht nur'
die Freiheit des Gedankens und der wissenschaftlichen Forschung unterdrückte,
nicht nur einen Kepler, den großen Erforscher der Gesetze des Planetensystems,
zum Ketzer stempelte, sondern auch den Pulsschlag des religiösen Gefühls
hemmte. Das lebendige Schöpfen aus den heiligen Schriften hatte in der
theologischen Schule aufgehört, und anstatt des lebendigen Glaubens herrschte
in dieser ein selbstgefälliger, polternder Eifer für die sogenannte reine Lehre.
Inzwischen war echte praktisch-mystische Frömmigkeit nicht untergegangen; aber
gehemmt, gestört und verletzt dnrch jene steife, orthodvxistische Katheder- und
Kanzelweisheit, suchte und fand sie Ausdruck und Nahrung allein in den
klassischen Erbauungsschriften eines Joh. Arndt, eines Heinrich Müller und
eines Christian Scriver, vorzugsweise aber in der Poesie des kirchlichen und
überhaupt geistlichen Liedes. Der milde und doch starke Hauch lebendiger,
kindlicher, volksmüßiger, anspruchsloser, aber wahrer Frömmigkeit strömte aus
in deu Gebilden der Dichtkunst und fand in dieser wiederum Anregung. Diese
Thatsache gewinnt aber dadurch eine besondere Bedeutung, daß nicht nur die
Poesie die Zufluchtsstätte der Religion wurde, sondern nicht minder die Religion
das Asyl der wahren Dichtkunst; beide suchten sich gegenseitig. Im Ganzen
war auch die Dichtkunst steif, gelehrt, künstlich, bombastisch und doch hand¬
werksmäßig geworden. Als Vorbilder begannen die regelrechten Franzosen zu
gelten, außer diesen waren nicht die Griechen, auch nicht die klassischen römischen
Dichter maßgebend, sondern die gelehrten Nachahmer der Römer. Die Dicht¬
kunst galt für etwas Lernbares und wurde eben dadurch etwas Mechanisches
und äußerlich Technisches. Der einzige Ausdruck ganz wahrer, einfacher,
naturwüchsiger und doch innig zarter Empfindung war das evangelische Kirchen¬
lied; Namen wie Joh. Rist, Georg Neumark, Heinrich Albert und vor allen
Paul Gerhard beweisen es. Unter den späteren Früchten der deutschen geist¬
lichen Liederpoesie können auch einige Gesäuge Gellert's mit Achtung genannt
werden. Der Zeitgeist jedoch, in dessen Atmosphäre Gellert athmet, ist im
Allgemeinen bereits der einer neuen Periode, der Periode der Aufklärung.

Während dieser zweiten Periode finden wir Poesie und Religion im Grunde
in einem gespannten Verhältniß, aber nnr deshalb, weil die einflußreichsten
Theoretiker der Dichtkunst und die tonangebenden Literctten, d. h. Männer wie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0308" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141719"/>
          <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916"> Augen fast aller Parteien verlor und im 19. nicht wiedergewonnen hat. Man<lb/>
braucht indessen nicht zu den Liberalen oder gar zu den Radikalen zu gehen,<lb/>
um das Zugeständniß zu vernehmen, daß die Gottesgelehrtheit, welche im<lb/>
Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges herrschte, die Spuren des Verfalls<lb/>
ebenso deutlich zeigt, wie die meisten übrigen Gebiete des geistigen Lebens.<lb/>
Die Theologie war wieder scholastisch geworden; es herrschte in ihr die kalte,<lb/>
trockne, subtile Formel; es war eine Erstarrung eingetreten, welche nicht nur'<lb/>
die Freiheit des Gedankens und der wissenschaftlichen Forschung unterdrückte,<lb/>
nicht nur einen Kepler, den großen Erforscher der Gesetze des Planetensystems,<lb/>
zum Ketzer stempelte, sondern auch den Pulsschlag des religiösen Gefühls<lb/>
hemmte. Das lebendige Schöpfen aus den heiligen Schriften hatte in der<lb/>
theologischen Schule aufgehört, und anstatt des lebendigen Glaubens herrschte<lb/>
in dieser ein selbstgefälliger, polternder Eifer für die sogenannte reine Lehre.<lb/>
Inzwischen war echte praktisch-mystische Frömmigkeit nicht untergegangen; aber<lb/>
gehemmt, gestört und verletzt dnrch jene steife, orthodvxistische Katheder- und<lb/>
Kanzelweisheit, suchte und fand sie Ausdruck und Nahrung allein in den<lb/>
klassischen Erbauungsschriften eines Joh. Arndt, eines Heinrich Müller und<lb/>
eines Christian Scriver, vorzugsweise aber in der Poesie des kirchlichen und<lb/>
überhaupt geistlichen Liedes. Der milde und doch starke Hauch lebendiger,<lb/>
kindlicher, volksmüßiger, anspruchsloser, aber wahrer Frömmigkeit strömte aus<lb/>
in deu Gebilden der Dichtkunst und fand in dieser wiederum Anregung. Diese<lb/>
Thatsache gewinnt aber dadurch eine besondere Bedeutung, daß nicht nur die<lb/>
Poesie die Zufluchtsstätte der Religion wurde, sondern nicht minder die Religion<lb/>
das Asyl der wahren Dichtkunst; beide suchten sich gegenseitig. Im Ganzen<lb/>
war auch die Dichtkunst steif, gelehrt, künstlich, bombastisch und doch hand¬<lb/>
werksmäßig geworden. Als Vorbilder begannen die regelrechten Franzosen zu<lb/>
gelten, außer diesen waren nicht die Griechen, auch nicht die klassischen römischen<lb/>
Dichter maßgebend, sondern die gelehrten Nachahmer der Römer. Die Dicht¬<lb/>
kunst galt für etwas Lernbares und wurde eben dadurch etwas Mechanisches<lb/>
und äußerlich Technisches. Der einzige Ausdruck ganz wahrer, einfacher,<lb/>
naturwüchsiger und doch innig zarter Empfindung war das evangelische Kirchen¬<lb/>
lied; Namen wie Joh. Rist, Georg Neumark, Heinrich Albert und vor allen<lb/>
Paul Gerhard beweisen es. Unter den späteren Früchten der deutschen geist¬<lb/>
lichen Liederpoesie können auch einige Gesäuge Gellert's mit Achtung genannt<lb/>
werden. Der Zeitgeist jedoch, in dessen Atmosphäre Gellert athmet, ist im<lb/>
Allgemeinen bereits der einer neuen Periode, der Periode der Aufklärung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_918" next="#ID_919"> Während dieser zweiten Periode finden wir Poesie und Religion im Grunde<lb/>
in einem gespannten Verhältniß, aber nnr deshalb, weil die einflußreichsten<lb/>
Theoretiker der Dichtkunst und die tonangebenden Literctten, d. h. Männer wie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0308] Augen fast aller Parteien verlor und im 19. nicht wiedergewonnen hat. Man braucht indessen nicht zu den Liberalen oder gar zu den Radikalen zu gehen, um das Zugeständniß zu vernehmen, daß die Gottesgelehrtheit, welche im Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges herrschte, die Spuren des Verfalls ebenso deutlich zeigt, wie die meisten übrigen Gebiete des geistigen Lebens. Die Theologie war wieder scholastisch geworden; es herrschte in ihr die kalte, trockne, subtile Formel; es war eine Erstarrung eingetreten, welche nicht nur' die Freiheit des Gedankens und der wissenschaftlichen Forschung unterdrückte, nicht nur einen Kepler, den großen Erforscher der Gesetze des Planetensystems, zum Ketzer stempelte, sondern auch den Pulsschlag des religiösen Gefühls hemmte. Das lebendige Schöpfen aus den heiligen Schriften hatte in der theologischen Schule aufgehört, und anstatt des lebendigen Glaubens herrschte in dieser ein selbstgefälliger, polternder Eifer für die sogenannte reine Lehre. Inzwischen war echte praktisch-mystische Frömmigkeit nicht untergegangen; aber gehemmt, gestört und verletzt dnrch jene steife, orthodvxistische Katheder- und Kanzelweisheit, suchte und fand sie Ausdruck und Nahrung allein in den klassischen Erbauungsschriften eines Joh. Arndt, eines Heinrich Müller und eines Christian Scriver, vorzugsweise aber in der Poesie des kirchlichen und überhaupt geistlichen Liedes. Der milde und doch starke Hauch lebendiger, kindlicher, volksmüßiger, anspruchsloser, aber wahrer Frömmigkeit strömte aus in deu Gebilden der Dichtkunst und fand in dieser wiederum Anregung. Diese Thatsache gewinnt aber dadurch eine besondere Bedeutung, daß nicht nur die Poesie die Zufluchtsstätte der Religion wurde, sondern nicht minder die Religion das Asyl der wahren Dichtkunst; beide suchten sich gegenseitig. Im Ganzen war auch die Dichtkunst steif, gelehrt, künstlich, bombastisch und doch hand¬ werksmäßig geworden. Als Vorbilder begannen die regelrechten Franzosen zu gelten, außer diesen waren nicht die Griechen, auch nicht die klassischen römischen Dichter maßgebend, sondern die gelehrten Nachahmer der Römer. Die Dicht¬ kunst galt für etwas Lernbares und wurde eben dadurch etwas Mechanisches und äußerlich Technisches. Der einzige Ausdruck ganz wahrer, einfacher, naturwüchsiger und doch innig zarter Empfindung war das evangelische Kirchen¬ lied; Namen wie Joh. Rist, Georg Neumark, Heinrich Albert und vor allen Paul Gerhard beweisen es. Unter den späteren Früchten der deutschen geist¬ lichen Liederpoesie können auch einige Gesäuge Gellert's mit Achtung genannt werden. Der Zeitgeist jedoch, in dessen Atmosphäre Gellert athmet, ist im Allgemeinen bereits der einer neuen Periode, der Periode der Aufklärung. Während dieser zweiten Periode finden wir Poesie und Religion im Grunde in einem gespannten Verhältniß, aber nnr deshalb, weil die einflußreichsten Theoretiker der Dichtkunst und die tonangebenden Literctten, d. h. Männer wie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/308
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/308>, abgerufen am 27.08.2024.