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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Genau in derselben arbiträren Form persönlicher Abhängigkeit nach oben,
ohne jedes kollegiale Band mit anderen Zweigen der Verwaltung, gliedert sich
die Regierung nach unten. Ohne jene weiten Länderstrecken zu rechnen, welche,
wie Polen, die Ostseeprovinzen, der Kaukasus und die neuen Eroberungen in
Asien, sich einer gesonderten Verwaltung erfreuen, zerfällt das eigentliche Ru߬
land in einige fünfzig Gouvernements, von denen eine ganze Anzahl die Größe,
wenn auch nicht die Einwohnerzahl der kleinen europäischen Staaten haben.
An der Spitze derselben steht ein Generalgouvemeur, und von ihm abwärts
wiederholt sich dieselbe Stufenleiter von Kollegien, Komite's und Beamten, die
wir eben in Petersburg kennen lernten. Da nur das Bedürfniß einer bequemen
Verwaltung bei ihrer Eintheilung zu Grunde gelegt wurde, so sind, ähnlich
wie bei den französischen Departements, ihre Grenzen ganz willkürlich und
unabhängig von den Namen der alten historischen Landschaften gezogen.

Für die Verschiedenheit der Ausdehnung, welche zur Dichtigkeit der Be¬
völkerung in einem umgekehrten Verhältnisse steht, sei nur angeführt, daß z. B.
das Gouvernement Archangel auf 835000 Quadrat-Kilometer weniger als
300000 Seelen, das Gouvernement Kiew auf 100000 Quadrat-Kilometer mehr
als 2 Millionen Seelen besitzt, was weder ein vereinzelter Fall, noch die
Maximal-Differenz dieser Verhältnisse ist. Von den begünstigteren Landschaften,
denen noch eine Art provinzieller Autonomie verblieben war, wie den Ostsee¬
provinzen, Klein-Rußland, Polen, Finnland u. a., waren früher mehrere Gou¬
vernements unter Beibehaltung der historischen Grenzen in Generalgouverne¬
ments vereinigt, und wenn dies auch nur aus militärpolitischen Gründen
geschah, kam es dennoch dem Streben der Bewohner nach provinzieller Dezen¬
tralisation zu gute. Jetzt sind aber auch diese Lande nach der allgemeinen
Zentralisationsschablone willkürlich in Verwaltungskreise zerschnitten, und trotz
vielfach verliehener liberaler Institutionen auf anderen Gebieten wurde diese
Maßregel von den Betroffenen mit Recht als ein Rückschritt gegen frühere
Zustünde aufgefaßt und erregte namentlich in den deutschen Provinzen eine
Aufregung, die im Beginn dieses Jahrzehnts vielfach eine ernste Gestalt an¬
nahm. In Deutschland sympathisirte man natürlich mit den Stammesgenossen,
ohne viel nach den Details zu fragen, da man ihre Nationalität nach ihren
eigenen Aussagen ebenso bedroht glaubte, wie es diejenige der sievenbürgischen
Deutschen durch die skandalösen Vorgänge in dem sogenannten ungarischen
Parlament in der That ist. Die Sachen liegen denn aber doch etwas anders;
es handelt sich im Grunde darum, den eigentlichen Urbewohnern des Landes,
welche von den Deutschen in einer Leibeigenschaft gehalten worden waren, die
den alten Ruf "der Deutsche ist der schlimmste Herr!" durchaus rechtfertigte,
eine Stellung zu geben, wie sie ihnen durch die neue Verfassung gewährleistet


Genau in derselben arbiträren Form persönlicher Abhängigkeit nach oben,
ohne jedes kollegiale Band mit anderen Zweigen der Verwaltung, gliedert sich
die Regierung nach unten. Ohne jene weiten Länderstrecken zu rechnen, welche,
wie Polen, die Ostseeprovinzen, der Kaukasus und die neuen Eroberungen in
Asien, sich einer gesonderten Verwaltung erfreuen, zerfällt das eigentliche Ru߬
land in einige fünfzig Gouvernements, von denen eine ganze Anzahl die Größe,
wenn auch nicht die Einwohnerzahl der kleinen europäischen Staaten haben.
An der Spitze derselben steht ein Generalgouvemeur, und von ihm abwärts
wiederholt sich dieselbe Stufenleiter von Kollegien, Komite's und Beamten, die
wir eben in Petersburg kennen lernten. Da nur das Bedürfniß einer bequemen
Verwaltung bei ihrer Eintheilung zu Grunde gelegt wurde, so sind, ähnlich
wie bei den französischen Departements, ihre Grenzen ganz willkürlich und
unabhängig von den Namen der alten historischen Landschaften gezogen.

Für die Verschiedenheit der Ausdehnung, welche zur Dichtigkeit der Be¬
völkerung in einem umgekehrten Verhältnisse steht, sei nur angeführt, daß z. B.
das Gouvernement Archangel auf 835000 Quadrat-Kilometer weniger als
300000 Seelen, das Gouvernement Kiew auf 100000 Quadrat-Kilometer mehr
als 2 Millionen Seelen besitzt, was weder ein vereinzelter Fall, noch die
Maximal-Differenz dieser Verhältnisse ist. Von den begünstigteren Landschaften,
denen noch eine Art provinzieller Autonomie verblieben war, wie den Ostsee¬
provinzen, Klein-Rußland, Polen, Finnland u. a., waren früher mehrere Gou¬
vernements unter Beibehaltung der historischen Grenzen in Generalgouverne¬
ments vereinigt, und wenn dies auch nur aus militärpolitischen Gründen
geschah, kam es dennoch dem Streben der Bewohner nach provinzieller Dezen¬
tralisation zu gute. Jetzt sind aber auch diese Lande nach der allgemeinen
Zentralisationsschablone willkürlich in Verwaltungskreise zerschnitten, und trotz
vielfach verliehener liberaler Institutionen auf anderen Gebieten wurde diese
Maßregel von den Betroffenen mit Recht als ein Rückschritt gegen frühere
Zustünde aufgefaßt und erregte namentlich in den deutschen Provinzen eine
Aufregung, die im Beginn dieses Jahrzehnts vielfach eine ernste Gestalt an¬
nahm. In Deutschland sympathisirte man natürlich mit den Stammesgenossen,
ohne viel nach den Details zu fragen, da man ihre Nationalität nach ihren
eigenen Aussagen ebenso bedroht glaubte, wie es diejenige der sievenbürgischen
Deutschen durch die skandalösen Vorgänge in dem sogenannten ungarischen
Parlament in der That ist. Die Sachen liegen denn aber doch etwas anders;
es handelt sich im Grunde darum, den eigentlichen Urbewohnern des Landes,
welche von den Deutschen in einer Leibeigenschaft gehalten worden waren, die
den alten Ruf „der Deutsche ist der schlimmste Herr!" durchaus rechtfertigte,
eine Stellung zu geben, wie sie ihnen durch die neue Verfassung gewährleistet


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/300>, abgerufen am 26.08.2024.