Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.allgemeine Angst. An Gründen dazu fehlt es nicht. Denn der Bericht des Fragen wir nun, was ist die Pest, so mag uns zunächst die Schilderung, "Die Jahre von der heilbringenden Menschwerdung des Sohnes Gottes allgemeine Angst. An Gründen dazu fehlt es nicht. Denn der Bericht des Fragen wir nun, was ist die Pest, so mag uns zunächst die Schilderung, „Die Jahre von der heilbringenden Menschwerdung des Sohnes Gottes <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0204" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141615"/> <p xml:id="ID_609" prev="#ID_608"> allgemeine Angst. An Gründen dazu fehlt es nicht. Denn der Bericht des<lb/> fachmännischer Kommissars, den die Petersburger Regierung nach der insizirten<lb/> Gegend abgesandt hat, lautet keineswegs tröstlich. Dr. Krassowski bezeichnet<lb/> die Krankheit zwar nicht mit Bestimmtheit als die asiatische Pest, aber er sagt<lb/> ausdrücklich, daß die Symptome, unter welchen sie auftritt, der reißend schnelle<lb/> Verlauf, den sie nimmt, und die Verwüstungen, welche sie anrichtet, entschieden<lb/> der furchtbaren Anstecknngskraft und der unbedingten Unbesiegbarkeit gleichen,<lb/> welche jene Seuche nach den früheren Beobachtungen charcckterisirten. Bis<lb/> dahin hatte es in den offiziellen Rapporten wenigstens geheißen, daß etwa<lb/> fünf Prozent der Erkrankten wieder genesen seien. Krassowski aber meldet:<lb/> „Bis zum heutigen Tage war der Prozentsatz der Sterblichkeit genau in Ueber¬<lb/> einstimmung mit dem der Erkrankungsfälle." Und nicht weniger beunruhigend wie<lb/> dieser Bericht wirkt das Gutachten, welches die vom russischen Ministerium einbe¬<lb/> rufene Kommission von Fachmännern abgegeben hat. Zu dieser Kommission gehören<lb/> Prof. Bvtkin und der Leibarzt des Kaisers Alexander, Dr. Zdekaner, Autoritäten<lb/> ersten Ranges auf dem Gebiete der praktischen Medizin, und die Kommission hat sich<lb/> nicht nur einstimmig dahin ausgesprochen, daß die im Wolgagebiet ausgebrochene<lb/> Epidemie wirklich die orientalische Pest sei, sondern diese ihre Meinung auch in einer<lb/> Weise begründet, die unwiderleglich erscheint. Kein Wunder daher, wenn<lb/> Schrecken sich in Rußland aller Welt bemächtigt hat, und wenn benachbarte<lb/> Regierungen sich bereits bewogen gefunden haben, der Sache ihre Aufmerksam¬<lb/> keit zuzuwenden.</p><lb/> <p xml:id="ID_610"> Fragen wir nun, was ist die Pest, so mag uns zunächst die Schilderung,<lb/> die uns Boccaccio im ersten Tag seines „Decamerone" nach eigner Beobachtung<lb/> und vom Standpunkt des Wissens seiner Zeit von ihr entwirft, darüber Aus¬<lb/> kunft geben. Ein neueres vortreffliches Bild ihres Wüthens enthält die anonym<lb/> erschienene englische Schrift „Eothen". Der große italienische Novellendichter<lb/> aber erzählt:</p><lb/> <p xml:id="ID_611" next="#ID_612"> „Die Jahre von der heilbringenden Menschwerdung des Sohnes Gottes<lb/> waren bis zur Zahl eintausend dreihundert achtundvierzig angewachsen, als das<lb/> todbringende Pestübel in die herrliche Stadt Florenz gelangte, nachdem es einige<lb/> Jahre früher in den Morgenländer, entweder durch Einwirkung der Himmels¬<lb/> körper oder als eine von Gott im gerechten Zorne über unsern sündhaften<lb/> Lebenswandel den Menschen herabgesandte Strafe begonnen, dort eine unzählige<lb/> Menge Lebendiger getödtet hatte und dann ohne Aufenthalt, von Ort zu Ort<lb/> sich verbreitend, nach den abendländischen Gegenden jammerbringend weiterge¬<lb/> schritten war. Gegen dieses Uebel half keine menschliche Klugheit oder Vor¬<lb/> kehrung, obwohl man es daran nicht fehlen und die Stadt durch eigens dazu<lb/> bestellte Beamte von allem Unrathe reinigen ließ, auch jedem Kranken den Ein-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0204]
allgemeine Angst. An Gründen dazu fehlt es nicht. Denn der Bericht des
fachmännischer Kommissars, den die Petersburger Regierung nach der insizirten
Gegend abgesandt hat, lautet keineswegs tröstlich. Dr. Krassowski bezeichnet
die Krankheit zwar nicht mit Bestimmtheit als die asiatische Pest, aber er sagt
ausdrücklich, daß die Symptome, unter welchen sie auftritt, der reißend schnelle
Verlauf, den sie nimmt, und die Verwüstungen, welche sie anrichtet, entschieden
der furchtbaren Anstecknngskraft und der unbedingten Unbesiegbarkeit gleichen,
welche jene Seuche nach den früheren Beobachtungen charcckterisirten. Bis
dahin hatte es in den offiziellen Rapporten wenigstens geheißen, daß etwa
fünf Prozent der Erkrankten wieder genesen seien. Krassowski aber meldet:
„Bis zum heutigen Tage war der Prozentsatz der Sterblichkeit genau in Ueber¬
einstimmung mit dem der Erkrankungsfälle." Und nicht weniger beunruhigend wie
dieser Bericht wirkt das Gutachten, welches die vom russischen Ministerium einbe¬
rufene Kommission von Fachmännern abgegeben hat. Zu dieser Kommission gehören
Prof. Bvtkin und der Leibarzt des Kaisers Alexander, Dr. Zdekaner, Autoritäten
ersten Ranges auf dem Gebiete der praktischen Medizin, und die Kommission hat sich
nicht nur einstimmig dahin ausgesprochen, daß die im Wolgagebiet ausgebrochene
Epidemie wirklich die orientalische Pest sei, sondern diese ihre Meinung auch in einer
Weise begründet, die unwiderleglich erscheint. Kein Wunder daher, wenn
Schrecken sich in Rußland aller Welt bemächtigt hat, und wenn benachbarte
Regierungen sich bereits bewogen gefunden haben, der Sache ihre Aufmerksam¬
keit zuzuwenden.
Fragen wir nun, was ist die Pest, so mag uns zunächst die Schilderung,
die uns Boccaccio im ersten Tag seines „Decamerone" nach eigner Beobachtung
und vom Standpunkt des Wissens seiner Zeit von ihr entwirft, darüber Aus¬
kunft geben. Ein neueres vortreffliches Bild ihres Wüthens enthält die anonym
erschienene englische Schrift „Eothen". Der große italienische Novellendichter
aber erzählt:
„Die Jahre von der heilbringenden Menschwerdung des Sohnes Gottes
waren bis zur Zahl eintausend dreihundert achtundvierzig angewachsen, als das
todbringende Pestübel in die herrliche Stadt Florenz gelangte, nachdem es einige
Jahre früher in den Morgenländer, entweder durch Einwirkung der Himmels¬
körper oder als eine von Gott im gerechten Zorne über unsern sündhaften
Lebenswandel den Menschen herabgesandte Strafe begonnen, dort eine unzählige
Menge Lebendiger getödtet hatte und dann ohne Aufenthalt, von Ort zu Ort
sich verbreitend, nach den abendländischen Gegenden jammerbringend weiterge¬
schritten war. Gegen dieses Uebel half keine menschliche Klugheit oder Vor¬
kehrung, obwohl man es daran nicht fehlen und die Stadt durch eigens dazu
bestellte Beamte von allem Unrathe reinigen ließ, auch jedem Kranken den Ein-
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