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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Einsicht in Lessing's wissenschaftliche Methode und in die Eigenthümlichkeit
seines Stils, die Gruppirung des Materials ist augenscheinlich das Resultat
reifer Erwägung. Etwas flach ist gelegentlich der Hintergrund gezeichnet, von
dem die Hauptgestalt sich abhebt; hier hat sich Sine, wie er selbst bekennt, an
sekundäre Quellen, wie Biedermann's "Deutschland im achtzehnten Jahrhundert"
und Hettner's "Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" gehalten, und
es ist begreiflich, daß wir ans diese Weise nur einen vermittelten Eindrnck ge¬
winnen. Vor einem Urtheil wie das über Goethe's Faust, dessen tragisches
Motiv Sine (1,203) lediglich in der sucht nach Vergnügen (lovo ok x1"zg,8uro) findet
-- im Gegensatz zu Marlowe's und Lessing's Faust, bei denen es in der Sucht
uach Macht (loof of xovsr) und in der Sucht nach Wissen stovo ok I:nov1o6Zo)
liege -- hätte er übrigens durch Hettner bewahrt bleiben sollen. Musterhaft
dagegen in ihrer treffenden Auffassung und ihrer maßvollen Beurtheilung sind
die Kapitel über die Lessing'schen Hauptdramen, musterhaft vor allem auch
die beiden Kapitel über den "Laokoon" und die "Hamburgische Dramaturgie".
In dem Verständniß des ersteren ist Sine allerdings wesentlich gefördert worden
durch die erläuterte Blümner'sche Ausgabe, während er für die Dramaturgie
die inzwischen erschienenen Arbeiten von Cosack einerseits, Schröter und Thiele
andrerseits noch nicht verwerthen konnte. Auf jeden Fall gebührt ihm das
Verdienst, daß er den wohlgelungenen Versuch gemacht hat. Lessing's ästhetisches
Shstem, das ja entschieden in beiden Schriften niedergelegt ist, wenn es anch
in der Form, in der es vorliegt -- hier in den oft nur lose zusammenhängenden,
von allerhand Exkursen unterbrochenen Kapiteln, dort in den völlig unzusammen-
hängenden Theaterkritiken -- nicht hervortritt und nur den Blicken desjenigen sich
erschließt, der in langer, treuer Arbeit sich in diese Schriften vertieft und zwar
gleichzeitig in beide vertieft, dieses System herauszuschälen und in eine geordnete
Folge zu bringen.

Angenehm ist die Darstellungsweise Sine's. Zwar gewinnt man nicht
den Eindruck eines großartigen Gesammtbildes, dessen einzelne Partieen straff
konzentrirt, dessen Farben in feinen Uebergängen vertrieben find, sondern eher
den einer Frieskomposition, die in sauberer Mosaikarbeit an unserm Auge
vorüberzieht. Aber die schlichte Art, mit welcher der Verfasser die Thatsachen
reden läßt, hat -- namentlich im Hinblick auf Stahr's Darstellung -- etwas
ungemein Wohlthuendes. Wo er tadelt, da geschieht es mit der Bescheidenheit,
die Lessing gegenüber sich gebührt, wo er lobt, mit herzlicher, fast kindlicher
Freude und Aufrichtigkeit.

Es ist und bleibt zu bedauern, daß wir in Deutschland derartige Bücher
nicht fertig bringen. ^ Die tiefe Kluft zwischen fachwissenschaftlicher und po¬
pulärwissenschaftlicher Literatur, die bei uns lange Zeit bestanden hat, ist zwar in


Einsicht in Lessing's wissenschaftliche Methode und in die Eigenthümlichkeit
seines Stils, die Gruppirung des Materials ist augenscheinlich das Resultat
reifer Erwägung. Etwas flach ist gelegentlich der Hintergrund gezeichnet, von
dem die Hauptgestalt sich abhebt; hier hat sich Sine, wie er selbst bekennt, an
sekundäre Quellen, wie Biedermann's „Deutschland im achtzehnten Jahrhundert"
und Hettner's „Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" gehalten, und
es ist begreiflich, daß wir ans diese Weise nur einen vermittelten Eindrnck ge¬
winnen. Vor einem Urtheil wie das über Goethe's Faust, dessen tragisches
Motiv Sine (1,203) lediglich in der sucht nach Vergnügen (lovo ok x1«zg,8uro) findet
— im Gegensatz zu Marlowe's und Lessing's Faust, bei denen es in der Sucht
uach Macht (loof of xovsr) und in der Sucht nach Wissen stovo ok I:nov1o6Zo)
liege — hätte er übrigens durch Hettner bewahrt bleiben sollen. Musterhaft
dagegen in ihrer treffenden Auffassung und ihrer maßvollen Beurtheilung sind
die Kapitel über die Lessing'schen Hauptdramen, musterhaft vor allem auch
die beiden Kapitel über den „Laokoon" und die „Hamburgische Dramaturgie".
In dem Verständniß des ersteren ist Sine allerdings wesentlich gefördert worden
durch die erläuterte Blümner'sche Ausgabe, während er für die Dramaturgie
die inzwischen erschienenen Arbeiten von Cosack einerseits, Schröter und Thiele
andrerseits noch nicht verwerthen konnte. Auf jeden Fall gebührt ihm das
Verdienst, daß er den wohlgelungenen Versuch gemacht hat. Lessing's ästhetisches
Shstem, das ja entschieden in beiden Schriften niedergelegt ist, wenn es anch
in der Form, in der es vorliegt — hier in den oft nur lose zusammenhängenden,
von allerhand Exkursen unterbrochenen Kapiteln, dort in den völlig unzusammen-
hängenden Theaterkritiken — nicht hervortritt und nur den Blicken desjenigen sich
erschließt, der in langer, treuer Arbeit sich in diese Schriften vertieft und zwar
gleichzeitig in beide vertieft, dieses System herauszuschälen und in eine geordnete
Folge zu bringen.

Angenehm ist die Darstellungsweise Sine's. Zwar gewinnt man nicht
den Eindruck eines großartigen Gesammtbildes, dessen einzelne Partieen straff
konzentrirt, dessen Farben in feinen Uebergängen vertrieben find, sondern eher
den einer Frieskomposition, die in sauberer Mosaikarbeit an unserm Auge
vorüberzieht. Aber die schlichte Art, mit welcher der Verfasser die Thatsachen
reden läßt, hat — namentlich im Hinblick auf Stahr's Darstellung — etwas
ungemein Wohlthuendes. Wo er tadelt, da geschieht es mit der Bescheidenheit,
die Lessing gegenüber sich gebührt, wo er lobt, mit herzlicher, fast kindlicher
Freude und Aufrichtigkeit.

Es ist und bleibt zu bedauern, daß wir in Deutschland derartige Bücher
nicht fertig bringen. ^ Die tiefe Kluft zwischen fachwissenschaftlicher und po¬
pulärwissenschaftlicher Literatur, die bei uns lange Zeit bestanden hat, ist zwar in


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[0081] Einsicht in Lessing's wissenschaftliche Methode und in die Eigenthümlichkeit seines Stils, die Gruppirung des Materials ist augenscheinlich das Resultat reifer Erwägung. Etwas flach ist gelegentlich der Hintergrund gezeichnet, von dem die Hauptgestalt sich abhebt; hier hat sich Sine, wie er selbst bekennt, an sekundäre Quellen, wie Biedermann's „Deutschland im achtzehnten Jahrhundert" und Hettner's „Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" gehalten, und es ist begreiflich, daß wir ans diese Weise nur einen vermittelten Eindrnck ge¬ winnen. Vor einem Urtheil wie das über Goethe's Faust, dessen tragisches Motiv Sine (1,203) lediglich in der sucht nach Vergnügen (lovo ok x1«zg,8uro) findet — im Gegensatz zu Marlowe's und Lessing's Faust, bei denen es in der Sucht uach Macht (loof of xovsr) und in der Sucht nach Wissen stovo ok I:nov1o6Zo) liege — hätte er übrigens durch Hettner bewahrt bleiben sollen. Musterhaft dagegen in ihrer treffenden Auffassung und ihrer maßvollen Beurtheilung sind die Kapitel über die Lessing'schen Hauptdramen, musterhaft vor allem auch die beiden Kapitel über den „Laokoon" und die „Hamburgische Dramaturgie". In dem Verständniß des ersteren ist Sine allerdings wesentlich gefördert worden durch die erläuterte Blümner'sche Ausgabe, während er für die Dramaturgie die inzwischen erschienenen Arbeiten von Cosack einerseits, Schröter und Thiele andrerseits noch nicht verwerthen konnte. Auf jeden Fall gebührt ihm das Verdienst, daß er den wohlgelungenen Versuch gemacht hat. Lessing's ästhetisches Shstem, das ja entschieden in beiden Schriften niedergelegt ist, wenn es anch in der Form, in der es vorliegt — hier in den oft nur lose zusammenhängenden, von allerhand Exkursen unterbrochenen Kapiteln, dort in den völlig unzusammen- hängenden Theaterkritiken — nicht hervortritt und nur den Blicken desjenigen sich erschließt, der in langer, treuer Arbeit sich in diese Schriften vertieft und zwar gleichzeitig in beide vertieft, dieses System herauszuschälen und in eine geordnete Folge zu bringen. Angenehm ist die Darstellungsweise Sine's. Zwar gewinnt man nicht den Eindruck eines großartigen Gesammtbildes, dessen einzelne Partieen straff konzentrirt, dessen Farben in feinen Uebergängen vertrieben find, sondern eher den einer Frieskomposition, die in sauberer Mosaikarbeit an unserm Auge vorüberzieht. Aber die schlichte Art, mit welcher der Verfasser die Thatsachen reden läßt, hat — namentlich im Hinblick auf Stahr's Darstellung — etwas ungemein Wohlthuendes. Wo er tadelt, da geschieht es mit der Bescheidenheit, die Lessing gegenüber sich gebührt, wo er lobt, mit herzlicher, fast kindlicher Freude und Aufrichtigkeit. Es ist und bleibt zu bedauern, daß wir in Deutschland derartige Bücher nicht fertig bringen. ^ Die tiefe Kluft zwischen fachwissenschaftlicher und po¬ pulärwissenschaftlicher Literatur, die bei uns lange Zeit bestanden hat, ist zwar in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/81>, abgerufen am 05.02.2025.