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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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innewohnt, auf dem Schmerzenslager nicht eingebüßt hat, beweist die Thatsache,
daß in wenig Wochen diese neueste Sammlung seiner Lieder vergriffen war, und
eine neue Auflage veranstaltet werden mußte. Wir haben uns schon öfters über die
besondern Vorzüge der Dichtungen Karl Stieler's ausgesprochen. Die Natürlich¬
keit und Innigkeit seiner Empfindung, welcher immer ein gut Theil Schalkheit bei¬
gemischt ist, die völlige Vertrautheit mit der Sprache, dem Leben und Denken
des Volkes der bayrischen Berge, läßt die dialektische Form seiner Dichtungen
nie als willkührliche Zuthat, sondern als den natürlichsten Ausdruck der Lieder
und Gsanglu erscheinen, die ans dem urkräftiger Boden dieses ungekünstelten
Lebens emporwachsen. Reicher und wechselvoller vielleicht als in irgend einer
der früheren Sammlttngen ist in der vorliegenden dieses Leben des Bergvolkes
geschildert. Denn abgesehen von den unvermeidlichen trefflichen Schnadahüpfeln,
welche auch in dieser Sammlung am Schlüsse stehen, und dem Abschnitte
"Unter viel Leut' gibt's allerhand", welcher in dem täglichen Hanshaltplau
eiuer Zeitung zweifellos unter der Rubrik "Vermischtes" untergebracht werden
würde, begegnet uns hier zum ersten Mal das Streben des Dichters, gewisse
Hauptklassen der oberbayrischen Gesellschaft gesondert darzustellen. Der Abschnitt
"auf der scharfen Seiten" versetzt uns in die höchste Region, nicht der Gesell¬
schaft, sondern der Berge, und zeigt an einer Reihe humorvoller wie tief¬
trauriger Bilder das Leben des Volkes, das da oben, an der Grenze des
ewigen Schnees, kaum einen Strahl von der milden Sonne der deutsche"
Kulturwelt, manchmal kaum der christlichen Liebe empfangen hat. Der nächste
Abschnitt "von die kloana Lent" bietet ebenso wechselvolle Bilder aus dem
Kindesleben im Gebirge.- Die fast durchweg behaglich und fröhlich gehaltenen
nächsten sechs Rubriken enthüllen uns das politische Verständniß ""die Politikaller")
des Bergvolkes, seine Beziehungen' zum Arzt ("Umanauder-Dottern") und zu
den Gerichten ("Von die G'strenga"), zum Wirthshaus ("Aus die bvarischen
Wirthshänsl"), seiner Hauswirthschaft (Ehhalten-Stroach") und einige seiner
Gedanken über das liebe Vieh ("bei die Viecher"). Und wenn hier auch fast
überall der kräftige Humor des Dichters zur Geltung kommt, so wird es
doch wenige Gedichte geben, welche deutsch-patriotischen Sinn schöner zum
Ausdruck bringen können, als das schmucklose Gsangl "Hoch drob'u am Berg",
in dem der Eindrnck des Nobiling'schen Attentates auf arme schlichte Holz-
knechte geschildert wird. Jeder kann diese Gedichte verstehen -- wenn er sie
auch nicht gerade wundervoll deklamiren kann -- und Jeder sollte sie lesen.

Alphons Dürr's Verlag in Leipzig, der vor einigen Jahren die bekannte
Prachtausgabe der Voß'schen Uebersetzung der Odyssee mit den herr¬
lichen Preller'schen Zeichnungen zur Odyssee in Holzschnitt herausgab,


innewohnt, auf dem Schmerzenslager nicht eingebüßt hat, beweist die Thatsache,
daß in wenig Wochen diese neueste Sammlung seiner Lieder vergriffen war, und
eine neue Auflage veranstaltet werden mußte. Wir haben uns schon öfters über die
besondern Vorzüge der Dichtungen Karl Stieler's ausgesprochen. Die Natürlich¬
keit und Innigkeit seiner Empfindung, welcher immer ein gut Theil Schalkheit bei¬
gemischt ist, die völlige Vertrautheit mit der Sprache, dem Leben und Denken
des Volkes der bayrischen Berge, läßt die dialektische Form seiner Dichtungen
nie als willkührliche Zuthat, sondern als den natürlichsten Ausdruck der Lieder
und Gsanglu erscheinen, die ans dem urkräftiger Boden dieses ungekünstelten
Lebens emporwachsen. Reicher und wechselvoller vielleicht als in irgend einer
der früheren Sammlttngen ist in der vorliegenden dieses Leben des Bergvolkes
geschildert. Denn abgesehen von den unvermeidlichen trefflichen Schnadahüpfeln,
welche auch in dieser Sammlung am Schlüsse stehen, und dem Abschnitte
„Unter viel Leut' gibt's allerhand", welcher in dem täglichen Hanshaltplau
eiuer Zeitung zweifellos unter der Rubrik „Vermischtes" untergebracht werden
würde, begegnet uns hier zum ersten Mal das Streben des Dichters, gewisse
Hauptklassen der oberbayrischen Gesellschaft gesondert darzustellen. Der Abschnitt
„auf der scharfen Seiten" versetzt uns in die höchste Region, nicht der Gesell¬
schaft, sondern der Berge, und zeigt an einer Reihe humorvoller wie tief¬
trauriger Bilder das Leben des Volkes, das da oben, an der Grenze des
ewigen Schnees, kaum einen Strahl von der milden Sonne der deutsche»
Kulturwelt, manchmal kaum der christlichen Liebe empfangen hat. Der nächste
Abschnitt „von die kloana Lent" bietet ebenso wechselvolle Bilder aus dem
Kindesleben im Gebirge.- Die fast durchweg behaglich und fröhlich gehaltenen
nächsten sechs Rubriken enthüllen uns das politische Verständniß «„die Politikaller")
des Bergvolkes, seine Beziehungen' zum Arzt („Umanauder-Dottern") und zu
den Gerichten („Von die G'strenga"), zum Wirthshaus („Aus die bvarischen
Wirthshänsl"), seiner Hauswirthschaft (Ehhalten-Stroach") und einige seiner
Gedanken über das liebe Vieh („bei die Viecher"). Und wenn hier auch fast
überall der kräftige Humor des Dichters zur Geltung kommt, so wird es
doch wenige Gedichte geben, welche deutsch-patriotischen Sinn schöner zum
Ausdruck bringen können, als das schmucklose Gsangl „Hoch drob'u am Berg",
in dem der Eindrnck des Nobiling'schen Attentates auf arme schlichte Holz-
knechte geschildert wird. Jeder kann diese Gedichte verstehen — wenn er sie
auch nicht gerade wundervoll deklamiren kann — und Jeder sollte sie lesen.

Alphons Dürr's Verlag in Leipzig, der vor einigen Jahren die bekannte
Prachtausgabe der Voß'schen Uebersetzung der Odyssee mit den herr¬
lichen Preller'schen Zeichnungen zur Odyssee in Holzschnitt herausgab,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/400>, abgerufen am 05.02.2025.