Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

auch, wenn selbst unbedeutende Rollen, ich will einmal sagen "zu gut" gespielt
werden. Daß eine Rolle eine untergeordnete ist, darf auch in der leichteren
Behandlung sich aussprechen, die ihr zu Theil wird. Wenn Brutus seinem
Diener Lucius aufträgt, ihm die Lampe in's Lesezimmer zu tragen, und dieser
dann mit einer Betonung, als ob ein großer Entschluß zur Ausführung des
Auftrags gehörte, entgegnet: "Ich will es thun, Herr", so drängt sich das
Kleine zu anspruchsvoll neben das Große. Diese Gefahr, daß die Nebenrollen
zu wichtig gespielt werden, liegt bei den Meiningern doppelt nahe, bei dem
vorzüglichen Vorbilde, das die ersten Kräfte, die Vertreter der Hauptrollen den
Uebrigen geben und bei dem offenbar alle beseelenden Streben, auch das Kleinste
sauber auszuarbeiten und bedeutungsvoll zu gestalten.

voosw "erste Kräfte" -- es heißt ja, es fehle den Meiningern an
"ersten Kräften", ja man spricht ihnen mit wunderlichen Argumenten geradezu
a priori die Möglichkeit, solche Kräfte zu haben, ab. Man erzählt sich schreck¬
liche Beispiele von der eisernen militärischen Zucht, mit der hier ein Völkchen,
das man sich so gern als das heiterste der Welt denkt, geleitet werde. Jede
Armbewegung, die Betonung jeder einzelnen Silbe werde höheren Orts diktirt,
gebilligt oder gemißbilligt, mit dem Kreidestrich werde die Linie vorgezeichnet,
auf der der Einzelne sich auf der Bühne vorwärts oder rückwärts zu be¬
wegen habe. Einem solchen Zwange, der jede künstlerische Individualität unter¬
drücken müsse, könne sich ein wahrhaft großer Künstler niemals fügen, das
würden immer nur Kräfte zweiten und dritten Ranges thun. Nichts kann
verkehrter sein, als solch' eine Argumentation; trauen wir doch unseren Augen!
Wenn mir ein Künstler wie Hellmuth-Bräu gestern einen solchen Brutus,
heute eiuen solchen Schweizer, morgen einen solchen Junker Tobias spielt, ein
Künstler wie Nesper gestern solch' einen Antonius, heute solch' einen Karl
Moor, ich dächte doch, da könnte von Unterdrückung künstlerischer Individua¬
lität nicht die Rede sein. Der Boden eines Kuustinstitutes, auf dem solche
Proteischen Talente ihre Kräfte entfalten können, muß ein durchaus gesunder
sein. Was heißt auch Kräfte ersten Ranges? Beruht die Künstlerschaft nur
w der Naturanlage? Wer steht höher, der Virtuos mit "phänomenalen"
Mitteln, oder der denkende, einsichtsvolle Künstler, der seine "mäßigen" Mittel
weise zu gebrauchen versteht? Der aufdringliche Protagonist, der alles um
sich her todt spielt, oder der Darsteller, der maßvoll dem Ganzen sich einfügt?
Den Meiningern fehlt's, in diesem Sinne, an ersten Kräften wahrlich nicht,
an Kräften, zu deren Besitz jede große Hofbühne sich Glück wünschen könnte.

Die drei Stücke, die die Meininger bisher in Leipzig gespielt haben, sind
schon genannt. Sechsmal hinter einander haben sie den "Julius Caesar",


auch, wenn selbst unbedeutende Rollen, ich will einmal sagen „zu gut" gespielt
werden. Daß eine Rolle eine untergeordnete ist, darf auch in der leichteren
Behandlung sich aussprechen, die ihr zu Theil wird. Wenn Brutus seinem
Diener Lucius aufträgt, ihm die Lampe in's Lesezimmer zu tragen, und dieser
dann mit einer Betonung, als ob ein großer Entschluß zur Ausführung des
Auftrags gehörte, entgegnet: „Ich will es thun, Herr", so drängt sich das
Kleine zu anspruchsvoll neben das Große. Diese Gefahr, daß die Nebenrollen
zu wichtig gespielt werden, liegt bei den Meiningern doppelt nahe, bei dem
vorzüglichen Vorbilde, das die ersten Kräfte, die Vertreter der Hauptrollen den
Uebrigen geben und bei dem offenbar alle beseelenden Streben, auch das Kleinste
sauber auszuarbeiten und bedeutungsvoll zu gestalten.

voosw „erste Kräfte" — es heißt ja, es fehle den Meiningern an
„ersten Kräften", ja man spricht ihnen mit wunderlichen Argumenten geradezu
a priori die Möglichkeit, solche Kräfte zu haben, ab. Man erzählt sich schreck¬
liche Beispiele von der eisernen militärischen Zucht, mit der hier ein Völkchen,
das man sich so gern als das heiterste der Welt denkt, geleitet werde. Jede
Armbewegung, die Betonung jeder einzelnen Silbe werde höheren Orts diktirt,
gebilligt oder gemißbilligt, mit dem Kreidestrich werde die Linie vorgezeichnet,
auf der der Einzelne sich auf der Bühne vorwärts oder rückwärts zu be¬
wegen habe. Einem solchen Zwange, der jede künstlerische Individualität unter¬
drücken müsse, könne sich ein wahrhaft großer Künstler niemals fügen, das
würden immer nur Kräfte zweiten und dritten Ranges thun. Nichts kann
verkehrter sein, als solch' eine Argumentation; trauen wir doch unseren Augen!
Wenn mir ein Künstler wie Hellmuth-Bräu gestern einen solchen Brutus,
heute eiuen solchen Schweizer, morgen einen solchen Junker Tobias spielt, ein
Künstler wie Nesper gestern solch' einen Antonius, heute solch' einen Karl
Moor, ich dächte doch, da könnte von Unterdrückung künstlerischer Individua¬
lität nicht die Rede sein. Der Boden eines Kuustinstitutes, auf dem solche
Proteischen Talente ihre Kräfte entfalten können, muß ein durchaus gesunder
sein. Was heißt auch Kräfte ersten Ranges? Beruht die Künstlerschaft nur
w der Naturanlage? Wer steht höher, der Virtuos mit „phänomenalen"
Mitteln, oder der denkende, einsichtsvolle Künstler, der seine „mäßigen" Mittel
weise zu gebrauchen versteht? Der aufdringliche Protagonist, der alles um
sich her todt spielt, oder der Darsteller, der maßvoll dem Ganzen sich einfügt?
Den Meiningern fehlt's, in diesem Sinne, an ersten Kräften wahrlich nicht,
an Kräften, zu deren Besitz jede große Hofbühne sich Glück wünschen könnte.

Die drei Stücke, die die Meininger bisher in Leipzig gespielt haben, sind
schon genannt. Sechsmal hinter einander haben sie den „Julius Caesar",


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141078"/>
          <p xml:id="ID_689" prev="#ID_688"> auch, wenn selbst unbedeutende Rollen, ich will einmal sagen &#x201E;zu gut" gespielt<lb/>
werden. Daß eine Rolle eine untergeordnete ist, darf auch in der leichteren<lb/>
Behandlung sich aussprechen, die ihr zu Theil wird. Wenn Brutus seinem<lb/>
Diener Lucius aufträgt, ihm die Lampe in's Lesezimmer zu tragen, und dieser<lb/>
dann mit einer Betonung, als ob ein großer Entschluß zur Ausführung des<lb/>
Auftrags gehörte, entgegnet: &#x201E;Ich will es thun, Herr", so drängt sich das<lb/>
Kleine zu anspruchsvoll neben das Große. Diese Gefahr, daß die Nebenrollen<lb/>
zu wichtig gespielt werden, liegt bei den Meiningern doppelt nahe, bei dem<lb/>
vorzüglichen Vorbilde, das die ersten Kräfte, die Vertreter der Hauptrollen den<lb/>
Uebrigen geben und bei dem offenbar alle beseelenden Streben, auch das Kleinste<lb/>
sauber auszuarbeiten und bedeutungsvoll zu gestalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_690"> voosw &#x201E;erste Kräfte" &#x2014; es heißt ja, es fehle den Meiningern an<lb/>
&#x201E;ersten Kräften", ja man spricht ihnen mit wunderlichen Argumenten geradezu<lb/>
a priori die Möglichkeit, solche Kräfte zu haben, ab. Man erzählt sich schreck¬<lb/>
liche Beispiele von der eisernen militärischen Zucht, mit der hier ein Völkchen,<lb/>
das man sich so gern als das heiterste der Welt denkt, geleitet werde. Jede<lb/>
Armbewegung, die Betonung jeder einzelnen Silbe werde höheren Orts diktirt,<lb/>
gebilligt oder gemißbilligt, mit dem Kreidestrich werde die Linie vorgezeichnet,<lb/>
auf der der Einzelne sich auf der Bühne vorwärts oder rückwärts zu be¬<lb/>
wegen habe. Einem solchen Zwange, der jede künstlerische Individualität unter¬<lb/>
drücken müsse, könne sich ein wahrhaft großer Künstler niemals fügen, das<lb/>
würden immer nur Kräfte zweiten und dritten Ranges thun. Nichts kann<lb/>
verkehrter sein, als solch' eine Argumentation; trauen wir doch unseren Augen!<lb/>
Wenn mir ein Künstler wie Hellmuth-Bräu gestern einen solchen Brutus,<lb/>
heute eiuen solchen Schweizer, morgen einen solchen Junker Tobias spielt, ein<lb/>
Künstler wie Nesper gestern solch' einen Antonius, heute solch' einen Karl<lb/>
Moor, ich dächte doch, da könnte von Unterdrückung künstlerischer Individua¬<lb/>
lität nicht die Rede sein. Der Boden eines Kuustinstitutes, auf dem solche<lb/>
Proteischen Talente ihre Kräfte entfalten können, muß ein durchaus gesunder<lb/>
sein. Was heißt auch Kräfte ersten Ranges? Beruht die Künstlerschaft nur<lb/>
w der Naturanlage? Wer steht höher, der Virtuos mit &#x201E;phänomenalen"<lb/>
Mitteln, oder der denkende, einsichtsvolle Künstler, der seine &#x201E;mäßigen" Mittel<lb/>
weise zu gebrauchen versteht? Der aufdringliche Protagonist, der alles um<lb/>
sich her todt spielt, oder der Darsteller, der maßvoll dem Ganzen sich einfügt?<lb/>
Den Meiningern fehlt's, in diesem Sinne, an ersten Kräften wahrlich nicht,<lb/>
an Kräften, zu deren Besitz jede große Hofbühne sich Glück wünschen könnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_691" next="#ID_692"> Die drei Stücke, die die Meininger bisher in Leipzig gespielt haben, sind<lb/>
schon genannt. Sechsmal hinter einander haben sie den &#x201E;Julius Caesar",</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0199] auch, wenn selbst unbedeutende Rollen, ich will einmal sagen „zu gut" gespielt werden. Daß eine Rolle eine untergeordnete ist, darf auch in der leichteren Behandlung sich aussprechen, die ihr zu Theil wird. Wenn Brutus seinem Diener Lucius aufträgt, ihm die Lampe in's Lesezimmer zu tragen, und dieser dann mit einer Betonung, als ob ein großer Entschluß zur Ausführung des Auftrags gehörte, entgegnet: „Ich will es thun, Herr", so drängt sich das Kleine zu anspruchsvoll neben das Große. Diese Gefahr, daß die Nebenrollen zu wichtig gespielt werden, liegt bei den Meiningern doppelt nahe, bei dem vorzüglichen Vorbilde, das die ersten Kräfte, die Vertreter der Hauptrollen den Uebrigen geben und bei dem offenbar alle beseelenden Streben, auch das Kleinste sauber auszuarbeiten und bedeutungsvoll zu gestalten. voosw „erste Kräfte" — es heißt ja, es fehle den Meiningern an „ersten Kräften", ja man spricht ihnen mit wunderlichen Argumenten geradezu a priori die Möglichkeit, solche Kräfte zu haben, ab. Man erzählt sich schreck¬ liche Beispiele von der eisernen militärischen Zucht, mit der hier ein Völkchen, das man sich so gern als das heiterste der Welt denkt, geleitet werde. Jede Armbewegung, die Betonung jeder einzelnen Silbe werde höheren Orts diktirt, gebilligt oder gemißbilligt, mit dem Kreidestrich werde die Linie vorgezeichnet, auf der der Einzelne sich auf der Bühne vorwärts oder rückwärts zu be¬ wegen habe. Einem solchen Zwange, der jede künstlerische Individualität unter¬ drücken müsse, könne sich ein wahrhaft großer Künstler niemals fügen, das würden immer nur Kräfte zweiten und dritten Ranges thun. Nichts kann verkehrter sein, als solch' eine Argumentation; trauen wir doch unseren Augen! Wenn mir ein Künstler wie Hellmuth-Bräu gestern einen solchen Brutus, heute eiuen solchen Schweizer, morgen einen solchen Junker Tobias spielt, ein Künstler wie Nesper gestern solch' einen Antonius, heute solch' einen Karl Moor, ich dächte doch, da könnte von Unterdrückung künstlerischer Individua¬ lität nicht die Rede sein. Der Boden eines Kuustinstitutes, auf dem solche Proteischen Talente ihre Kräfte entfalten können, muß ein durchaus gesunder sein. Was heißt auch Kräfte ersten Ranges? Beruht die Künstlerschaft nur w der Naturanlage? Wer steht höher, der Virtuos mit „phänomenalen" Mitteln, oder der denkende, einsichtsvolle Künstler, der seine „mäßigen" Mittel weise zu gebrauchen versteht? Der aufdringliche Protagonist, der alles um sich her todt spielt, oder der Darsteller, der maßvoll dem Ganzen sich einfügt? Den Meiningern fehlt's, in diesem Sinne, an ersten Kräften wahrlich nicht, an Kräften, zu deren Besitz jede große Hofbühne sich Glück wünschen könnte. Die drei Stücke, die die Meininger bisher in Leipzig gespielt haben, sind schon genannt. Sechsmal hinter einander haben sie den „Julius Caesar",

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/199
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/199>, abgerufen am 05.02.2025.