Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gehabt hat, dieses Gastspiel, soll man sagen zu veranlassen oder zu gestatten?
Es ist ein räthselhafter Muth. Ist es der Wagemuth der Verzweiflung, der
zu jedem Mittel greift, um die immer allgemeiner werdende Mißstimmung von
sich abzulenken, sei es auch um den Preis, bei einem Vergleiche mit dem
Konkurrenten doppelt und dreifach zu verlieren? Oder ist es die Tollkühnheit
der Verblendung, die gar nicht ahnt, was sie thut, indem sie selbst dem Publi¬
kum den Vergleich mit solch' einem Konkurrenten ermöglicht? Es ist freilich
nicht das einzige Räthsel, das es hier zu lösen gibt. Ist es nicht eben so
räthselhaft, daß der langjährige ständige Theaterkritiker des Leipziger Tage¬
blattes, Herr Hofrath Rudolf von Gottschall, von dem Tage an, wo die
Meininger hier spielen, Plötzlich verstummt ist und seine Feder interimistisch an
eine andere Hand abgetreten hat? Aber wir wollen uns hier nicht mit Räthsel¬
lösen abmühen, sondern uns nur der Thatsache freuen, die in den vier Worten
liegt: Die Meiuinger in Leipzig.

Ziemlich sang- und klanglos sind sie hier eingezogen. Noch zwei oder
drei Tage vor ihrem ersten Auftreten war es so gut wie unbekannt, daß ihr
Gastspiel so nahe bevorstehe. Natürlich. Des Vortheils, den Herr Dr. Förster
bei der kläglichsten Operette genießt, die er zur Aufführung bringt, Wochen
lang vorher in der Presse, und zwar in einer täglich dicker auftragenden
Reklame, das wichtige bevorstehende Kunstereigniß in's öffentliche Bewußtsein
hineinsickern zu lassen, dieses Vortheils mußten die Meininger entbehren.
Niemand nahm sich ihrer an und rührte die Lärmtrommel für sie. Sie waren
eben eines schönen Tages da, und an den Anschlagsäulen war Shakespeare's
"Julius Caesar" angekündigt. Aber vom ersten Tage an hatten sie gewonnenes
Feld, und ihr Besuch in Leipzig ist bis jetzt eine ununterbrochene Kette von
Triumphen gewesen.

Es kann nicht die Aufgabe dieser Blätter sein, einzelne Theateraufführungen
zu besprechen. Die künstlerischen Bestrebungen der Meininger im Ganzen zu
würdigen, die Prinzipien zu erörtern, auf denen sie fußen, darauf nur kann
es uns ankommen. Die Aufgabe ist keine ganz leichte, und man kommt nicht
eben rasch damit in's Reine. Steht man doch einem vielfachen Novum gegen¬
über: Neu find einem alle Gesichter vom ersten Darsteller an bis herab zum
letzten Statisten, neu die Jnszenirung, die Auffassung, das ganze Spiel. Selbst
alte, oft gesehene Stücke erscheinen einem dabei selber als ein Neues, Fremd¬
artiges, von dem Gewohnten Abweichendes, und so ist denn der erste Eindruck,
damit wir's offen gestehen, ein etwas zwiespältiger gewesen.

Ueber eins war man sich bald klar: daß man hier Leistungen gegenüber¬
steht, die das Ergebniß größten künstlerischen Ernstes und künstlerischer Ge¬
wissenhaftigkeit sind, mag deren Quelle nun in der Brust jedes einzelnen


gehabt hat, dieses Gastspiel, soll man sagen zu veranlassen oder zu gestatten?
Es ist ein räthselhafter Muth. Ist es der Wagemuth der Verzweiflung, der
zu jedem Mittel greift, um die immer allgemeiner werdende Mißstimmung von
sich abzulenken, sei es auch um den Preis, bei einem Vergleiche mit dem
Konkurrenten doppelt und dreifach zu verlieren? Oder ist es die Tollkühnheit
der Verblendung, die gar nicht ahnt, was sie thut, indem sie selbst dem Publi¬
kum den Vergleich mit solch' einem Konkurrenten ermöglicht? Es ist freilich
nicht das einzige Räthsel, das es hier zu lösen gibt. Ist es nicht eben so
räthselhaft, daß der langjährige ständige Theaterkritiker des Leipziger Tage¬
blattes, Herr Hofrath Rudolf von Gottschall, von dem Tage an, wo die
Meininger hier spielen, Plötzlich verstummt ist und seine Feder interimistisch an
eine andere Hand abgetreten hat? Aber wir wollen uns hier nicht mit Räthsel¬
lösen abmühen, sondern uns nur der Thatsache freuen, die in den vier Worten
liegt: Die Meiuinger in Leipzig.

Ziemlich sang- und klanglos sind sie hier eingezogen. Noch zwei oder
drei Tage vor ihrem ersten Auftreten war es so gut wie unbekannt, daß ihr
Gastspiel so nahe bevorstehe. Natürlich. Des Vortheils, den Herr Dr. Förster
bei der kläglichsten Operette genießt, die er zur Aufführung bringt, Wochen
lang vorher in der Presse, und zwar in einer täglich dicker auftragenden
Reklame, das wichtige bevorstehende Kunstereigniß in's öffentliche Bewußtsein
hineinsickern zu lassen, dieses Vortheils mußten die Meininger entbehren.
Niemand nahm sich ihrer an und rührte die Lärmtrommel für sie. Sie waren
eben eines schönen Tages da, und an den Anschlagsäulen war Shakespeare's
„Julius Caesar" angekündigt. Aber vom ersten Tage an hatten sie gewonnenes
Feld, und ihr Besuch in Leipzig ist bis jetzt eine ununterbrochene Kette von
Triumphen gewesen.

Es kann nicht die Aufgabe dieser Blätter sein, einzelne Theateraufführungen
zu besprechen. Die künstlerischen Bestrebungen der Meininger im Ganzen zu
würdigen, die Prinzipien zu erörtern, auf denen sie fußen, darauf nur kann
es uns ankommen. Die Aufgabe ist keine ganz leichte, und man kommt nicht
eben rasch damit in's Reine. Steht man doch einem vielfachen Novum gegen¬
über: Neu find einem alle Gesichter vom ersten Darsteller an bis herab zum
letzten Statisten, neu die Jnszenirung, die Auffassung, das ganze Spiel. Selbst
alte, oft gesehene Stücke erscheinen einem dabei selber als ein Neues, Fremd¬
artiges, von dem Gewohnten Abweichendes, und so ist denn der erste Eindruck,
damit wir's offen gestehen, ein etwas zwiespältiger gewesen.

Ueber eins war man sich bald klar: daß man hier Leistungen gegenüber¬
steht, die das Ergebniß größten künstlerischen Ernstes und künstlerischer Ge¬
wissenhaftigkeit sind, mag deren Quelle nun in der Brust jedes einzelnen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141073"/>
          <p xml:id="ID_677" prev="#ID_676"> gehabt hat, dieses Gastspiel, soll man sagen zu veranlassen oder zu gestatten?<lb/>
Es ist ein räthselhafter Muth. Ist es der Wagemuth der Verzweiflung, der<lb/>
zu jedem Mittel greift, um die immer allgemeiner werdende Mißstimmung von<lb/>
sich abzulenken, sei es auch um den Preis, bei einem Vergleiche mit dem<lb/>
Konkurrenten doppelt und dreifach zu verlieren? Oder ist es die Tollkühnheit<lb/>
der Verblendung, die gar nicht ahnt, was sie thut, indem sie selbst dem Publi¬<lb/>
kum den Vergleich mit solch' einem Konkurrenten ermöglicht? Es ist freilich<lb/>
nicht das einzige Räthsel, das es hier zu lösen gibt. Ist es nicht eben so<lb/>
räthselhaft, daß der langjährige ständige Theaterkritiker des Leipziger Tage¬<lb/>
blattes, Herr Hofrath Rudolf von Gottschall, von dem Tage an, wo die<lb/>
Meininger hier spielen, Plötzlich verstummt ist und seine Feder interimistisch an<lb/>
eine andere Hand abgetreten hat? Aber wir wollen uns hier nicht mit Räthsel¬<lb/>
lösen abmühen, sondern uns nur der Thatsache freuen, die in den vier Worten<lb/>
liegt:  Die Meiuinger in Leipzig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_678"> Ziemlich sang- und klanglos sind sie hier eingezogen. Noch zwei oder<lb/>
drei Tage vor ihrem ersten Auftreten war es so gut wie unbekannt, daß ihr<lb/>
Gastspiel so nahe bevorstehe. Natürlich. Des Vortheils, den Herr Dr. Förster<lb/>
bei der kläglichsten Operette genießt, die er zur Aufführung bringt, Wochen<lb/>
lang vorher in der Presse, und zwar in einer täglich dicker auftragenden<lb/>
Reklame, das wichtige bevorstehende Kunstereigniß in's öffentliche Bewußtsein<lb/>
hineinsickern zu lassen, dieses Vortheils mußten die Meininger entbehren.<lb/>
Niemand nahm sich ihrer an und rührte die Lärmtrommel für sie. Sie waren<lb/>
eben eines schönen Tages da, und an den Anschlagsäulen war Shakespeare's<lb/>
&#x201E;Julius Caesar" angekündigt. Aber vom ersten Tage an hatten sie gewonnenes<lb/>
Feld, und ihr Besuch in Leipzig ist bis jetzt eine ununterbrochene Kette von<lb/>
Triumphen gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_679"> Es kann nicht die Aufgabe dieser Blätter sein, einzelne Theateraufführungen<lb/>
zu besprechen. Die künstlerischen Bestrebungen der Meininger im Ganzen zu<lb/>
würdigen, die Prinzipien zu erörtern, auf denen sie fußen, darauf nur kann<lb/>
es uns ankommen. Die Aufgabe ist keine ganz leichte, und man kommt nicht<lb/>
eben rasch damit in's Reine. Steht man doch einem vielfachen Novum gegen¬<lb/>
über: Neu find einem alle Gesichter vom ersten Darsteller an bis herab zum<lb/>
letzten Statisten, neu die Jnszenirung, die Auffassung, das ganze Spiel. Selbst<lb/>
alte, oft gesehene Stücke erscheinen einem dabei selber als ein Neues, Fremd¬<lb/>
artiges, von dem Gewohnten Abweichendes, und so ist denn der erste Eindruck,<lb/>
damit wir's offen gestehen, ein etwas zwiespältiger gewesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_680" next="#ID_681"> Ueber eins war man sich bald klar: daß man hier Leistungen gegenüber¬<lb/>
steht, die das Ergebniß größten künstlerischen Ernstes und künstlerischer Ge¬<lb/>
wissenhaftigkeit sind, mag deren Quelle nun in der Brust jedes einzelnen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0194] gehabt hat, dieses Gastspiel, soll man sagen zu veranlassen oder zu gestatten? Es ist ein räthselhafter Muth. Ist es der Wagemuth der Verzweiflung, der zu jedem Mittel greift, um die immer allgemeiner werdende Mißstimmung von sich abzulenken, sei es auch um den Preis, bei einem Vergleiche mit dem Konkurrenten doppelt und dreifach zu verlieren? Oder ist es die Tollkühnheit der Verblendung, die gar nicht ahnt, was sie thut, indem sie selbst dem Publi¬ kum den Vergleich mit solch' einem Konkurrenten ermöglicht? Es ist freilich nicht das einzige Räthsel, das es hier zu lösen gibt. Ist es nicht eben so räthselhaft, daß der langjährige ständige Theaterkritiker des Leipziger Tage¬ blattes, Herr Hofrath Rudolf von Gottschall, von dem Tage an, wo die Meininger hier spielen, Plötzlich verstummt ist und seine Feder interimistisch an eine andere Hand abgetreten hat? Aber wir wollen uns hier nicht mit Räthsel¬ lösen abmühen, sondern uns nur der Thatsache freuen, die in den vier Worten liegt: Die Meiuinger in Leipzig. Ziemlich sang- und klanglos sind sie hier eingezogen. Noch zwei oder drei Tage vor ihrem ersten Auftreten war es so gut wie unbekannt, daß ihr Gastspiel so nahe bevorstehe. Natürlich. Des Vortheils, den Herr Dr. Förster bei der kläglichsten Operette genießt, die er zur Aufführung bringt, Wochen lang vorher in der Presse, und zwar in einer täglich dicker auftragenden Reklame, das wichtige bevorstehende Kunstereigniß in's öffentliche Bewußtsein hineinsickern zu lassen, dieses Vortheils mußten die Meininger entbehren. Niemand nahm sich ihrer an und rührte die Lärmtrommel für sie. Sie waren eben eines schönen Tages da, und an den Anschlagsäulen war Shakespeare's „Julius Caesar" angekündigt. Aber vom ersten Tage an hatten sie gewonnenes Feld, und ihr Besuch in Leipzig ist bis jetzt eine ununterbrochene Kette von Triumphen gewesen. Es kann nicht die Aufgabe dieser Blätter sein, einzelne Theateraufführungen zu besprechen. Die künstlerischen Bestrebungen der Meininger im Ganzen zu würdigen, die Prinzipien zu erörtern, auf denen sie fußen, darauf nur kann es uns ankommen. Die Aufgabe ist keine ganz leichte, und man kommt nicht eben rasch damit in's Reine. Steht man doch einem vielfachen Novum gegen¬ über: Neu find einem alle Gesichter vom ersten Darsteller an bis herab zum letzten Statisten, neu die Jnszenirung, die Auffassung, das ganze Spiel. Selbst alte, oft gesehene Stücke erscheinen einem dabei selber als ein Neues, Fremd¬ artiges, von dem Gewohnten Abweichendes, und so ist denn der erste Eindruck, damit wir's offen gestehen, ein etwas zwiespältiger gewesen. Ueber eins war man sich bald klar: daß man hier Leistungen gegenüber¬ steht, die das Ergebniß größten künstlerischen Ernstes und künstlerischer Ge¬ wissenhaftigkeit sind, mag deren Quelle nun in der Brust jedes einzelnen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/194
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/194>, abgerufen am 05.02.2025.