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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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kleinlich sich anklammernder Aengstlichkeit, sondern mit dichterischer Freiheit
und Leichtigkeit und mit der schöpferischen Kraft des Genie's.

Wenige Worte, die gewechselt werden, ersetzen sofort im Anfange eine
weitläufige Exposition:


Wandrer: Gott segne dich, junge Frau,
Und den säugenden Knaben
An deiner Brust!
Laß mich an der Felsenwand hier
In des Ulmbaums Schatten
Meine Bürde werfen,
Neben dir ausruhn,

Frau: Welch Gewerb treibt dich
Durch des Tages Hitze
Den staubigen Pfad her?
Bringst du Waaren aus der Stadt
Im Land herum?


Der Wandrer lächelt, und anstatt der jungen Frau eine Antwort zu geben,
die sie doch nicht begreifen würde, bittet er sie, ihm einen Brunnen zu zeigen,
an dem er seinen Durst stillen könne. Sie sührt ihn einen Felsenpfad hinauf,
und er sieht allmählich die Trümmer eines alten Tempels auftauchen, einen
Architrcw, mit Moos bedeckt, eine verwischte Inschrift, einsame Säulen, "die
majestätisch trauernd herabschauen ans die zertrümmerten Schwestern zu ihren
Füßen." Er zürnt der Natur, die "ihres Meisterstücks Meisterstück" in dieser
Weise zerstört, er vergißt ganz die Fran an seiner Seite, hört nichts von ihren
Bemerkungen, ihren freundlichen Anerbietungen. Jedes von beiden verfolgt
seine eigene Gedankenreihe, der Wandrer in seiner Betrachtung und seinen
Klagen versunken, die junge Frau nur darauf bedacht, dem Wandrer eine Er¬
quickung zu bieten, seinem ersten Wunsche gemäß, dem einzigen, den sie begreift,
weil er natürlich und allgemein menschlich ist. Was ist es nun, was die Ge¬
dankenkreise beider einander nähert, sie auf ein und denselben Puukt richtet,
den Mann der Bildung, den Künstler, der über die Verstümmelung seiner ab¬
göttisch verehrten Kunstwerke empört ist, der die Vergangenheit in seiner Ein¬
bildung wiederherzustellen sucht, mit der Gegenwart, mit der Natur, mit dem
Leben aussöhnt? Der Uebergang ist von ebenso großer Simplizität wie Zart¬
heit, ebenso sinnreich wie rührend.

"Nimm den Knaben," redet die Mutter den Wandrer an, "daß ich Wasser
schöpfen gehe." So wird der Mann veranlaßt, sich niederzulassen, das Kind
auf seine Arme zu nehmen, und so richtet er seine Blicke und Gedanken von
den Ruinen, über die sie eben noch schweiften, auf die süße Last, die ihm an¬
vertraut ist.

Der Zauber ist gelöst: Das Interesse für die Vergangenheit weicht der


kleinlich sich anklammernder Aengstlichkeit, sondern mit dichterischer Freiheit
und Leichtigkeit und mit der schöpferischen Kraft des Genie's.

Wenige Worte, die gewechselt werden, ersetzen sofort im Anfange eine
weitläufige Exposition:


Wandrer: Gott segne dich, junge Frau,
Und den säugenden Knaben
An deiner Brust!
Laß mich an der Felsenwand hier
In des Ulmbaums Schatten
Meine Bürde werfen,
Neben dir ausruhn,

Frau: Welch Gewerb treibt dich
Durch des Tages Hitze
Den staubigen Pfad her?
Bringst du Waaren aus der Stadt
Im Land herum?


Der Wandrer lächelt, und anstatt der jungen Frau eine Antwort zu geben,
die sie doch nicht begreifen würde, bittet er sie, ihm einen Brunnen zu zeigen,
an dem er seinen Durst stillen könne. Sie sührt ihn einen Felsenpfad hinauf,
und er sieht allmählich die Trümmer eines alten Tempels auftauchen, einen
Architrcw, mit Moos bedeckt, eine verwischte Inschrift, einsame Säulen, „die
majestätisch trauernd herabschauen ans die zertrümmerten Schwestern zu ihren
Füßen." Er zürnt der Natur, die „ihres Meisterstücks Meisterstück" in dieser
Weise zerstört, er vergißt ganz die Fran an seiner Seite, hört nichts von ihren
Bemerkungen, ihren freundlichen Anerbietungen. Jedes von beiden verfolgt
seine eigene Gedankenreihe, der Wandrer in seiner Betrachtung und seinen
Klagen versunken, die junge Frau nur darauf bedacht, dem Wandrer eine Er¬
quickung zu bieten, seinem ersten Wunsche gemäß, dem einzigen, den sie begreift,
weil er natürlich und allgemein menschlich ist. Was ist es nun, was die Ge¬
dankenkreise beider einander nähert, sie auf ein und denselben Puukt richtet,
den Mann der Bildung, den Künstler, der über die Verstümmelung seiner ab¬
göttisch verehrten Kunstwerke empört ist, der die Vergangenheit in seiner Ein¬
bildung wiederherzustellen sucht, mit der Gegenwart, mit der Natur, mit dem
Leben aussöhnt? Der Uebergang ist von ebenso großer Simplizität wie Zart¬
heit, ebenso sinnreich wie rührend.

„Nimm den Knaben," redet die Mutter den Wandrer an, „daß ich Wasser
schöpfen gehe." So wird der Mann veranlaßt, sich niederzulassen, das Kind
auf seine Arme zu nehmen, und so richtet er seine Blicke und Gedanken von
den Ruinen, über die sie eben noch schweiften, auf die süße Last, die ihm an¬
vertraut ist.

Der Zauber ist gelöst: Das Interesse für die Vergangenheit weicht der


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[0103] kleinlich sich anklammernder Aengstlichkeit, sondern mit dichterischer Freiheit und Leichtigkeit und mit der schöpferischen Kraft des Genie's. Wenige Worte, die gewechselt werden, ersetzen sofort im Anfange eine weitläufige Exposition: Wandrer: Gott segne dich, junge Frau, Und den säugenden Knaben An deiner Brust! Laß mich an der Felsenwand hier In des Ulmbaums Schatten Meine Bürde werfen, Neben dir ausruhn, Frau: Welch Gewerb treibt dich Durch des Tages Hitze Den staubigen Pfad her? Bringst du Waaren aus der Stadt Im Land herum? Der Wandrer lächelt, und anstatt der jungen Frau eine Antwort zu geben, die sie doch nicht begreifen würde, bittet er sie, ihm einen Brunnen zu zeigen, an dem er seinen Durst stillen könne. Sie sührt ihn einen Felsenpfad hinauf, und er sieht allmählich die Trümmer eines alten Tempels auftauchen, einen Architrcw, mit Moos bedeckt, eine verwischte Inschrift, einsame Säulen, „die majestätisch trauernd herabschauen ans die zertrümmerten Schwestern zu ihren Füßen." Er zürnt der Natur, die „ihres Meisterstücks Meisterstück" in dieser Weise zerstört, er vergißt ganz die Fran an seiner Seite, hört nichts von ihren Bemerkungen, ihren freundlichen Anerbietungen. Jedes von beiden verfolgt seine eigene Gedankenreihe, der Wandrer in seiner Betrachtung und seinen Klagen versunken, die junge Frau nur darauf bedacht, dem Wandrer eine Er¬ quickung zu bieten, seinem ersten Wunsche gemäß, dem einzigen, den sie begreift, weil er natürlich und allgemein menschlich ist. Was ist es nun, was die Ge¬ dankenkreise beider einander nähert, sie auf ein und denselben Puukt richtet, den Mann der Bildung, den Künstler, der über die Verstümmelung seiner ab¬ göttisch verehrten Kunstwerke empört ist, der die Vergangenheit in seiner Ein¬ bildung wiederherzustellen sucht, mit der Gegenwart, mit der Natur, mit dem Leben aussöhnt? Der Uebergang ist von ebenso großer Simplizität wie Zart¬ heit, ebenso sinnreich wie rührend. „Nimm den Knaben," redet die Mutter den Wandrer an, „daß ich Wasser schöpfen gehe." So wird der Mann veranlaßt, sich niederzulassen, das Kind auf seine Arme zu nehmen, und so richtet er seine Blicke und Gedanken von den Ruinen, über die sie eben noch schweiften, auf die süße Last, die ihm an¬ vertraut ist. Der Zauber ist gelöst: Das Interesse für die Vergangenheit weicht der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/103>, abgerufen am 05.02.2025.