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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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erklärt sie zunächst für absolut sinnlos, da eine Partei, welche über 500,900
Menschen zähle, unmöglich sür jeden einzelnen derselben verantwortlich gemacht
werden könne, und überdies jedem, der die Prinzipien der deutschen Sozialisten
kenne, oder gar ihnen huldige, hinreichend bekannt sei, daß sie zu ihrem Ziele
nur auf dein Wege friedlicher, gesetzmäßiger Propaganda zu gelangen hoffen,
also jede Gewaltthat verabscheuen (!). Aber er hält sie auch für durchaus wir¬
kungslos, da die Gegner niemals in ruhiger Zeit solchen Versicherungen Glauben
geschenkt hätten, es also noch viel weniger jetzt thun würden. Geradezu seine
Entrüstung aber hat die Art und Weise herausgefordert, mit welcher die deut¬
schen Svzialistenblatter die beiden Attentäter mit Vorwürfen und Anklagen aller
Art überhäuft hätten. "Wir begreifen, ruft er aus, daß die staatlich-soziali¬
stische*) Partei, die Partei der friedliche" Thätigkeit auf gesetzlichem Boden,
die Partei der methodischen Thätigkeit, welche sich bemüht, den ganzen Gang
des Kampfes der Arbeit mit dem Kapital in einen bei Zeiten vorgezeichneten
Rahmen zu bringen, auf die Ereignisse unter den Linden nur sehen konnte wie
auf ein Hemmniß ihrer Arbeit, wie auf einen Knüppel, der ihr in die Räder
geworfen wurde. Aber wir haben durchaus uicht erwartet, daß die deutsche
Svzialistenpresse unisono mit der Bourgeoisie**) mit besonderen Eifer sich
daran machen würde, zwei Männer mit Schmutz zu bewerfen, bei deren einem
das Leben nur an einem Haare hängt, während der andere dem Tode auf
dem Schaffot zum Ruhme der Gewalt, des Staates und des Gesetzes nicht
entgehen kann!" --

Niemals sind der deutscheu Sozialdemokratie und ihrer Presse berechtigtere
Vorwürfe gemacht worden. Als die Kunde von dem Verbrechen zweier ruch-
losen Gesellen jeden fühlenden Menschen im Innersten erschütterte und empörte,
als der tiefberechtigte Zorn von Millionen Deutscher sich gegen die Sekte kehrte,
welche die Pariser Kommune verherrlichte und die That der Wjera Sassulitsch
als eine Heldenthat pries, da beeilten sich die sozialistischen Blätter jede Ver¬
antwortung abzulehnen. Der russische Nihilist, frei von den praktischen Rück¬
sichten, die jene fesselten, hat den Muth, die Konsequenzen aus Lehren zu ziehen,
zu welcher auch die deutschen Sozialdemokraten sich bekennen. Beruht wirklich
die gegenwärtige Ordnung der Dinge auf der gesetzlosen Usurpation einer herr¬
schenden Minderheit, dann ist jedes Mittel zu ihrem Sturze erlaubt, dann ist
der, der mit Gewalt eine auf Gewalt begründete Macht zu vernichten versucht,
der deshalb Hand anlegt an ihre Vertreter, ein Held und kein Verbrecher.




*) Im Gegensatz zu der anarchischen rothen Internationale.
Es ist bezeichnend, daß den Russen so gut wie uns Begriff "ut Sache gleichmäßig
fehlen und sie dafür das fremde Wort einfach herübernehmen (lmrlzinnisi".
Grenzvoten III. 1878. 00

erklärt sie zunächst für absolut sinnlos, da eine Partei, welche über 500,900
Menschen zähle, unmöglich sür jeden einzelnen derselben verantwortlich gemacht
werden könne, und überdies jedem, der die Prinzipien der deutschen Sozialisten
kenne, oder gar ihnen huldige, hinreichend bekannt sei, daß sie zu ihrem Ziele
nur auf dein Wege friedlicher, gesetzmäßiger Propaganda zu gelangen hoffen,
also jede Gewaltthat verabscheuen (!). Aber er hält sie auch für durchaus wir¬
kungslos, da die Gegner niemals in ruhiger Zeit solchen Versicherungen Glauben
geschenkt hätten, es also noch viel weniger jetzt thun würden. Geradezu seine
Entrüstung aber hat die Art und Weise herausgefordert, mit welcher die deut¬
schen Svzialistenblatter die beiden Attentäter mit Vorwürfen und Anklagen aller
Art überhäuft hätten. „Wir begreifen, ruft er aus, daß die staatlich-soziali¬
stische*) Partei, die Partei der friedliche» Thätigkeit auf gesetzlichem Boden,
die Partei der methodischen Thätigkeit, welche sich bemüht, den ganzen Gang
des Kampfes der Arbeit mit dem Kapital in einen bei Zeiten vorgezeichneten
Rahmen zu bringen, auf die Ereignisse unter den Linden nur sehen konnte wie
auf ein Hemmniß ihrer Arbeit, wie auf einen Knüppel, der ihr in die Räder
geworfen wurde. Aber wir haben durchaus uicht erwartet, daß die deutsche
Svzialistenpresse unisono mit der Bourgeoisie**) mit besonderen Eifer sich
daran machen würde, zwei Männer mit Schmutz zu bewerfen, bei deren einem
das Leben nur an einem Haare hängt, während der andere dem Tode auf
dem Schaffot zum Ruhme der Gewalt, des Staates und des Gesetzes nicht
entgehen kann!" —

Niemals sind der deutscheu Sozialdemokratie und ihrer Presse berechtigtere
Vorwürfe gemacht worden. Als die Kunde von dem Verbrechen zweier ruch-
losen Gesellen jeden fühlenden Menschen im Innersten erschütterte und empörte,
als der tiefberechtigte Zorn von Millionen Deutscher sich gegen die Sekte kehrte,
welche die Pariser Kommune verherrlichte und die That der Wjera Sassulitsch
als eine Heldenthat pries, da beeilten sich die sozialistischen Blätter jede Ver¬
antwortung abzulehnen. Der russische Nihilist, frei von den praktischen Rück¬
sichten, die jene fesselten, hat den Muth, die Konsequenzen aus Lehren zu ziehen,
zu welcher auch die deutschen Sozialdemokraten sich bekennen. Beruht wirklich
die gegenwärtige Ordnung der Dinge auf der gesetzlosen Usurpation einer herr¬
schenden Minderheit, dann ist jedes Mittel zu ihrem Sturze erlaubt, dann ist
der, der mit Gewalt eine auf Gewalt begründete Macht zu vernichten versucht,
der deshalb Hand anlegt an ihre Vertreter, ein Held und kein Verbrecher.




*) Im Gegensatz zu der anarchischen rothen Internationale.
Es ist bezeichnend, daß den Russen so gut wie uns Begriff »ut Sache gleichmäßig
fehlen und sie dafür das fremde Wort einfach herübernehmen (lmrlzinnisi».
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[0481] erklärt sie zunächst für absolut sinnlos, da eine Partei, welche über 500,900 Menschen zähle, unmöglich sür jeden einzelnen derselben verantwortlich gemacht werden könne, und überdies jedem, der die Prinzipien der deutschen Sozialisten kenne, oder gar ihnen huldige, hinreichend bekannt sei, daß sie zu ihrem Ziele nur auf dein Wege friedlicher, gesetzmäßiger Propaganda zu gelangen hoffen, also jede Gewaltthat verabscheuen (!). Aber er hält sie auch für durchaus wir¬ kungslos, da die Gegner niemals in ruhiger Zeit solchen Versicherungen Glauben geschenkt hätten, es also noch viel weniger jetzt thun würden. Geradezu seine Entrüstung aber hat die Art und Weise herausgefordert, mit welcher die deut¬ schen Svzialistenblatter die beiden Attentäter mit Vorwürfen und Anklagen aller Art überhäuft hätten. „Wir begreifen, ruft er aus, daß die staatlich-soziali¬ stische*) Partei, die Partei der friedliche» Thätigkeit auf gesetzlichem Boden, die Partei der methodischen Thätigkeit, welche sich bemüht, den ganzen Gang des Kampfes der Arbeit mit dem Kapital in einen bei Zeiten vorgezeichneten Rahmen zu bringen, auf die Ereignisse unter den Linden nur sehen konnte wie auf ein Hemmniß ihrer Arbeit, wie auf einen Knüppel, der ihr in die Räder geworfen wurde. Aber wir haben durchaus uicht erwartet, daß die deutsche Svzialistenpresse unisono mit der Bourgeoisie**) mit besonderen Eifer sich daran machen würde, zwei Männer mit Schmutz zu bewerfen, bei deren einem das Leben nur an einem Haare hängt, während der andere dem Tode auf dem Schaffot zum Ruhme der Gewalt, des Staates und des Gesetzes nicht entgehen kann!" — Niemals sind der deutscheu Sozialdemokratie und ihrer Presse berechtigtere Vorwürfe gemacht worden. Als die Kunde von dem Verbrechen zweier ruch- losen Gesellen jeden fühlenden Menschen im Innersten erschütterte und empörte, als der tiefberechtigte Zorn von Millionen Deutscher sich gegen die Sekte kehrte, welche die Pariser Kommune verherrlichte und die That der Wjera Sassulitsch als eine Heldenthat pries, da beeilten sich die sozialistischen Blätter jede Ver¬ antwortung abzulehnen. Der russische Nihilist, frei von den praktischen Rück¬ sichten, die jene fesselten, hat den Muth, die Konsequenzen aus Lehren zu ziehen, zu welcher auch die deutschen Sozialdemokraten sich bekennen. Beruht wirklich die gegenwärtige Ordnung der Dinge auf der gesetzlosen Usurpation einer herr¬ schenden Minderheit, dann ist jedes Mittel zu ihrem Sturze erlaubt, dann ist der, der mit Gewalt eine auf Gewalt begründete Macht zu vernichten versucht, der deshalb Hand anlegt an ihre Vertreter, ein Held und kein Verbrecher. *) Im Gegensatz zu der anarchischen rothen Internationale. Es ist bezeichnend, daß den Russen so gut wie uns Begriff »ut Sache gleichmäßig fehlen und sie dafür das fremde Wort einfach herübernehmen (lmrlzinnisi». Grenzvoten III. 1878. 00

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/481>, abgerufen am 03.07.2024.