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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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von einer "Letzten Rose" gehört, Sie allermnsikalischster Herr Doktor? Oder
von einem Liede, das beginnt: "Mein Herz ist im Hochland" und einem andern,
welches anfängt: "Ans deinen Höhn, du mein liebes Vaterland"? Oder ist
Ihnen vielleicht die Ouvertüre zu einer gewissen "Weißen Dame" bekannt und
daraus das Motiv____" und damit trällerte sie leise die bewußte Melodie
nud begleitete sie mit ein paar Griffen aus dem Flügel. "Nun sehen Sie,
Sie größter aller Kenner, das sind echte altenglische Volkslieder, und wenn
Sie Lust haben, mehr dieser Art kennen zu lernen, der grüne Band hier steht
Ihnen zu Diensten."

Auf allgemeines Bitten sang unsre treffliche Wirthin eine Anzahl von den
Liedern, die sie rasch in dem ihr offenbar wohlvertrauten Bande aufsuchte, und
ich durfte sie dabei begleiten. Der Eindruck war fiir mich -- ich gestehe es
offen -- kein recht befriedigender. Es schien mir fast in allen Liedern ein
nndefinirbarer, fremdartiger Rest zu bleiben, mit dem ich für den Augenblick
nicht anf's Reine kommen konnte. Beim vierten oder fünften Liede aber fing
mir die Sache doch an schon besser zu behagen, und wir hätten wohl noch
eine Weile fortmusizirt, wenn nicht die Rücksicht auf die übrigen Gäste unserm
intimen Duo ein Ende gemacht hätte. Der grüne Band aber stach mir von
jetzt an ununterbrochen in die Augen, und als das "Kränzchen" sich am Abend
trennte, bat ich, ihn auf einige Tage mit Hinansnehmen zu dürfen in das freund¬
liche Försterhaus, in dem ich mich einquartiert hatte. Mein Wunsch wurde mir
gern gewährt, und am nächsten Morgen saß ich wahrhaftig mit dem dicken
Notenbande draußen unter den alten Buchen, und am dritten und vierten
Tage begleitete er mich auf meinem Morgengänge durch den Wald, und wenn
es oben in den Zweigen still wurde, so suchte ich mir ein behagliches Plätzchen
im Moose, und dann wurden in den Blättern des grünen Buches die alten
seltsamen Weisen lebendig und klangen mir täglich vertrauter, und am Ende
söhnte ich mich vollständig mit dem Schicksal aus, das mir mitten in blühender
Sommerzeit mit den unfreiwilligen Winterfreuden eines "musikalischen Kränz¬
chens" in die Quere gekommen war. Auch aufgezeichnet habe ich mir mancherlei
aus dem grünen Buche und über das grüne Buch, in der Hoffnung, gelegent¬
lich den Lesern dieser grünen Blätter etwas davon mittheilen zu können. Und
siehe da -- früher als mir selber lieb ist, hocke ich zu diesem Zwecke wieder
daheim an dem fatalen Schreibtische.

Die Texte und Melodien einheimischer Volksweisen zu sammeln, hat man
in England schon frühzeitig begonnen. Das erste bedeutende Sammelwerk
dieser Art und zugleich dasjenige, welches allen späteren mehr oder weniger zu
Grunde liegt, erschien im Jahre 1724 unter dem Titel "^e-, I-ibis Nisoslliu^"
(Allerlei zum Theetisch) und war von Man Ramsay herausgegeben. Der


Grenzboten III. 1873. 43

von einer „Letzten Rose" gehört, Sie allermnsikalischster Herr Doktor? Oder
von einem Liede, das beginnt: „Mein Herz ist im Hochland" und einem andern,
welches anfängt: „Ans deinen Höhn, du mein liebes Vaterland"? Oder ist
Ihnen vielleicht die Ouvertüre zu einer gewissen „Weißen Dame" bekannt und
daraus das Motiv____" und damit trällerte sie leise die bewußte Melodie
nud begleitete sie mit ein paar Griffen aus dem Flügel. „Nun sehen Sie,
Sie größter aller Kenner, das sind echte altenglische Volkslieder, und wenn
Sie Lust haben, mehr dieser Art kennen zu lernen, der grüne Band hier steht
Ihnen zu Diensten."

Auf allgemeines Bitten sang unsre treffliche Wirthin eine Anzahl von den
Liedern, die sie rasch in dem ihr offenbar wohlvertrauten Bande aufsuchte, und
ich durfte sie dabei begleiten. Der Eindruck war fiir mich — ich gestehe es
offen — kein recht befriedigender. Es schien mir fast in allen Liedern ein
nndefinirbarer, fremdartiger Rest zu bleiben, mit dem ich für den Augenblick
nicht anf's Reine kommen konnte. Beim vierten oder fünften Liede aber fing
mir die Sache doch an schon besser zu behagen, und wir hätten wohl noch
eine Weile fortmusizirt, wenn nicht die Rücksicht auf die übrigen Gäste unserm
intimen Duo ein Ende gemacht hätte. Der grüne Band aber stach mir von
jetzt an ununterbrochen in die Augen, und als das „Kränzchen" sich am Abend
trennte, bat ich, ihn auf einige Tage mit Hinansnehmen zu dürfen in das freund¬
liche Försterhaus, in dem ich mich einquartiert hatte. Mein Wunsch wurde mir
gern gewährt, und am nächsten Morgen saß ich wahrhaftig mit dem dicken
Notenbande draußen unter den alten Buchen, und am dritten und vierten
Tage begleitete er mich auf meinem Morgengänge durch den Wald, und wenn
es oben in den Zweigen still wurde, so suchte ich mir ein behagliches Plätzchen
im Moose, und dann wurden in den Blättern des grünen Buches die alten
seltsamen Weisen lebendig und klangen mir täglich vertrauter, und am Ende
söhnte ich mich vollständig mit dem Schicksal aus, das mir mitten in blühender
Sommerzeit mit den unfreiwilligen Winterfreuden eines „musikalischen Kränz¬
chens" in die Quere gekommen war. Auch aufgezeichnet habe ich mir mancherlei
aus dem grünen Buche und über das grüne Buch, in der Hoffnung, gelegent¬
lich den Lesern dieser grünen Blätter etwas davon mittheilen zu können. Und
siehe da — früher als mir selber lieb ist, hocke ich zu diesem Zwecke wieder
daheim an dem fatalen Schreibtische.

Die Texte und Melodien einheimischer Volksweisen zu sammeln, hat man
in England schon frühzeitig begonnen. Das erste bedeutende Sammelwerk
dieser Art und zugleich dasjenige, welches allen späteren mehr oder weniger zu
Grunde liegt, erschien im Jahre 1724 unter dem Titel „^e-, I-ibis Nisoslliu^"
(Allerlei zum Theetisch) und war von Man Ramsay herausgegeben. Der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/385>, abgerufen am 22.07.2024.