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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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geben ihren launigen Erfindungen durch Engelserscheinungen und andere
himmlische Zuthat einen frommen Anstrich und verschaffen auf diese Weise
auch da, wo sie die Gemüther durch geistliche Pflege wohlbebaut finden, ihren
phantastischen Erzählungen williges Gehör. Bei dieser Taktik der Spielleute
war es unausbleiblich, daß die alten Sagen wunderliche Gestaltungen annahmen
und eigenthümliche Entstellungen erlitten, und die germanische Wissenschaft hat
die oft nicht leichte Aufgabe, in dem eigenthümlichen Wirrwarr der Spielmanns¬
gedichte den Kern der ursprünglichen Sage herauszuschälen, die altdeutschen
Sageugestalten unter dem christlichen Kostüm, das ihnen von den Spielleuten
umgehängt ist, wiederzuerkennen. Dies gilt namentlich von drei Spielmanns¬
gedichten, die aus der Rheingegend, aus der Umgebung von Trier zu stammen
scheinen und in denen geistliche und weltliche Interessen, christliche Vorstellungen
und heidnische Ueberlieferungen eine wunderliche Verbindung eingegangen sind.

Um 1190 hat ein rheinischer Spielmann das "Märe vom König Orendel"
oder, wie er es seinen gläubigen Zuhörern zu Liebe nannte, das "Märe vom
ungenähten Rocke Christi" gesungen, ein Gedicht, welches v. d. Hagen 1844
herausgegeben und K. Simrock 1845 übersetzt hat. In dieser Erzählung hat
der Dichter mit den letzten Geschicken des Königreichs Jerusalem um 118?
und mit der kirchlichen Legende, welche berichtet, wie der heilige Rock nach
Trier kam, einen altgermanischen, heidnischen Odysseus-Mhthus verknüpft, der
noch zu seiner Zeit unter den Bewohnern des Rheins im Schwange gewesen
sein muß. Dieser Odyssensmythus, die Sage von einem in der Irre schwei¬
fenden Seefahrer, welcher, verfolgt von allen Schrecken des Meeres, unter ent¬
setzlichen Mühsalen seiner geliebten Heimat und seiner von zahlreichen Freiern
umworbener Gattin zustrebt, ist nicht etwa aus Griechenland nach unserm
Vaterlande übertragen worden, sondern er hat sich aus denselben Grundlagen,
wie dort, in Deutschland selbständig entwickelt. Die weiten Seefahrten, welche
schon in der frühesten Zeit von den germanischen Anwohnern der Ost- und
Nordsee, von den seekundigen Angeln, Sachsen und Friesen unternommen wurden,
die wunderbaren Naturerscheinungen des Meeres, welche die Aufmerksamkeit und
die Phantasie der Schiffer in Thätigkeit setzten, gaben den natürlichen Anlaß
zu einem ganzen Gewebe von Fabeln der verschiedensten Art, welches den
ganzen Norden von Weinland in Nordamerika bis zu den Umgebungen des
weißen Meeres und der Ostsee umspannte.*) Aus der Fülle dieser Sagen
mochte sich schon früh ein Mythus gebildet haben, ähnlich demjenigen, welcher
von dem griechischen Dichter zur Odyssee ausgestaltet wurde. Leider hat den
Deutschen der Dichter gefehlt, welcher den gewaltigen Stoff zu einem um-



Vcrgl. K, Müllenhoff, Deutsche Alterthumskunde S. 45.

geben ihren launigen Erfindungen durch Engelserscheinungen und andere
himmlische Zuthat einen frommen Anstrich und verschaffen auf diese Weise
auch da, wo sie die Gemüther durch geistliche Pflege wohlbebaut finden, ihren
phantastischen Erzählungen williges Gehör. Bei dieser Taktik der Spielleute
war es unausbleiblich, daß die alten Sagen wunderliche Gestaltungen annahmen
und eigenthümliche Entstellungen erlitten, und die germanische Wissenschaft hat
die oft nicht leichte Aufgabe, in dem eigenthümlichen Wirrwarr der Spielmanns¬
gedichte den Kern der ursprünglichen Sage herauszuschälen, die altdeutschen
Sageugestalten unter dem christlichen Kostüm, das ihnen von den Spielleuten
umgehängt ist, wiederzuerkennen. Dies gilt namentlich von drei Spielmanns¬
gedichten, die aus der Rheingegend, aus der Umgebung von Trier zu stammen
scheinen und in denen geistliche und weltliche Interessen, christliche Vorstellungen
und heidnische Ueberlieferungen eine wunderliche Verbindung eingegangen sind.

Um 1190 hat ein rheinischer Spielmann das „Märe vom König Orendel"
oder, wie er es seinen gläubigen Zuhörern zu Liebe nannte, das „Märe vom
ungenähten Rocke Christi" gesungen, ein Gedicht, welches v. d. Hagen 1844
herausgegeben und K. Simrock 1845 übersetzt hat. In dieser Erzählung hat
der Dichter mit den letzten Geschicken des Königreichs Jerusalem um 118?
und mit der kirchlichen Legende, welche berichtet, wie der heilige Rock nach
Trier kam, einen altgermanischen, heidnischen Odysseus-Mhthus verknüpft, der
noch zu seiner Zeit unter den Bewohnern des Rheins im Schwange gewesen
sein muß. Dieser Odyssensmythus, die Sage von einem in der Irre schwei¬
fenden Seefahrer, welcher, verfolgt von allen Schrecken des Meeres, unter ent¬
setzlichen Mühsalen seiner geliebten Heimat und seiner von zahlreichen Freiern
umworbener Gattin zustrebt, ist nicht etwa aus Griechenland nach unserm
Vaterlande übertragen worden, sondern er hat sich aus denselben Grundlagen,
wie dort, in Deutschland selbständig entwickelt. Die weiten Seefahrten, welche
schon in der frühesten Zeit von den germanischen Anwohnern der Ost- und
Nordsee, von den seekundigen Angeln, Sachsen und Friesen unternommen wurden,
die wunderbaren Naturerscheinungen des Meeres, welche die Aufmerksamkeit und
die Phantasie der Schiffer in Thätigkeit setzten, gaben den natürlichen Anlaß
zu einem ganzen Gewebe von Fabeln der verschiedensten Art, welches den
ganzen Norden von Weinland in Nordamerika bis zu den Umgebungen des
weißen Meeres und der Ostsee umspannte.*) Aus der Fülle dieser Sagen
mochte sich schon früh ein Mythus gebildet haben, ähnlich demjenigen, welcher
von dem griechischen Dichter zur Odyssee ausgestaltet wurde. Leider hat den
Deutschen der Dichter gefehlt, welcher den gewaltigen Stoff zu einem um-



Vcrgl. K, Müllenhoff, Deutsche Alterthumskunde S. 45.
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[0228] geben ihren launigen Erfindungen durch Engelserscheinungen und andere himmlische Zuthat einen frommen Anstrich und verschaffen auf diese Weise auch da, wo sie die Gemüther durch geistliche Pflege wohlbebaut finden, ihren phantastischen Erzählungen williges Gehör. Bei dieser Taktik der Spielleute war es unausbleiblich, daß die alten Sagen wunderliche Gestaltungen annahmen und eigenthümliche Entstellungen erlitten, und die germanische Wissenschaft hat die oft nicht leichte Aufgabe, in dem eigenthümlichen Wirrwarr der Spielmanns¬ gedichte den Kern der ursprünglichen Sage herauszuschälen, die altdeutschen Sageugestalten unter dem christlichen Kostüm, das ihnen von den Spielleuten umgehängt ist, wiederzuerkennen. Dies gilt namentlich von drei Spielmanns¬ gedichten, die aus der Rheingegend, aus der Umgebung von Trier zu stammen scheinen und in denen geistliche und weltliche Interessen, christliche Vorstellungen und heidnische Ueberlieferungen eine wunderliche Verbindung eingegangen sind. Um 1190 hat ein rheinischer Spielmann das „Märe vom König Orendel" oder, wie er es seinen gläubigen Zuhörern zu Liebe nannte, das „Märe vom ungenähten Rocke Christi" gesungen, ein Gedicht, welches v. d. Hagen 1844 herausgegeben und K. Simrock 1845 übersetzt hat. In dieser Erzählung hat der Dichter mit den letzten Geschicken des Königreichs Jerusalem um 118? und mit der kirchlichen Legende, welche berichtet, wie der heilige Rock nach Trier kam, einen altgermanischen, heidnischen Odysseus-Mhthus verknüpft, der noch zu seiner Zeit unter den Bewohnern des Rheins im Schwange gewesen sein muß. Dieser Odyssensmythus, die Sage von einem in der Irre schwei¬ fenden Seefahrer, welcher, verfolgt von allen Schrecken des Meeres, unter ent¬ setzlichen Mühsalen seiner geliebten Heimat und seiner von zahlreichen Freiern umworbener Gattin zustrebt, ist nicht etwa aus Griechenland nach unserm Vaterlande übertragen worden, sondern er hat sich aus denselben Grundlagen, wie dort, in Deutschland selbständig entwickelt. Die weiten Seefahrten, welche schon in der frühesten Zeit von den germanischen Anwohnern der Ost- und Nordsee, von den seekundigen Angeln, Sachsen und Friesen unternommen wurden, die wunderbaren Naturerscheinungen des Meeres, welche die Aufmerksamkeit und die Phantasie der Schiffer in Thätigkeit setzten, gaben den natürlichen Anlaß zu einem ganzen Gewebe von Fabeln der verschiedensten Art, welches den ganzen Norden von Weinland in Nordamerika bis zu den Umgebungen des weißen Meeres und der Ostsee umspannte.*) Aus der Fülle dieser Sagen mochte sich schon früh ein Mythus gebildet haben, ähnlich demjenigen, welcher von dem griechischen Dichter zur Odyssee ausgestaltet wurde. Leider hat den Deutschen der Dichter gefehlt, welcher den gewaltigen Stoff zu einem um- Vcrgl. K, Müllenhoff, Deutsche Alterthumskunde S. 45.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/228>, abgerufen am 22.07.2024.