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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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sehr von Gottsched unterscheidet, die entschiedenste Vorliebe für alles Possen¬
hafte, Verachtung aller Gravität und selbst einige Anlage zum Hanswurst.

Seine Briefe, die sich ungenirt über sämmtliche Gegenstände der Literatur
verbreiten, streben die Emanzipation Berlins von den bisherigen Zentralpunkten
Leipzig und Zürich an. Berlin müsse die wirkliche Hauptstadt werden; der
Standpunkt der Provinzen sei ein zurückgebliebener. Gottsched wird als
völlig abgethan behandelt, aber Bodmer kommt nicht besser fort. "Boomer
muß seinen Lesern eben das kalte Blut eines Fünfzigers zutrauen, womit er
eine ziemliche Anzahl von sehr langweiligen Erzählungen niedergeschrieben hat,
wenn er glaubt, daß sie an einem süßen Geschwätz von platonischer Liebe und
an einer ewigen Wiederholung von seraphischen Tändeleien Geschmack finden
konnten." -- Darauf folgt die schon erwähnte Stelle über Wieland.

April 1755 gab Lessing zwei neue Stücke heraus: den "Freigeist" und
"Miß Sara Sampson".

Der "Freigeist" ist psychologisch von großem Juteresse: das Stück behan¬
delt mit plastischer Anschaulichkeit und aus der innern Erfahrung heraus eine
Frage, die damals von den Gelehrten abstrakt oft erörtert wurde: wieweit das
Rechtsgefühl der Stütze eines offenbarten Gesetzes entbehren könne? -- Der
Aufbau des Stücks ist dem Französischen nachgebildet; aber es ist eine frische
lebendige Sprache darin und ein dramatischer Zug, der Alles zurückläßt, was
in jener Zeit geschrieben wurde. Die Peripetie in den Versuchen des edel-
denkender Geistlichen, das Herz des stolzen Freigeists zu gewinnen: daß er
nämlich die Fassung verliert, grob wird, und dadurch Adrast von seiner Offen¬
herzigkeit überzeugt, ist vortrefflich gedacht. Das Beste ist aber der Charakter
Adrast's selbst, der erste, den Lessing aus seinem Innern geschöpft hat; er ist
nachher in Tellheim und im Tempelherrn vertieft, aber schon jetzt spricht sich
der Dichter selbst in den Widersprüchen seiner starken aber unruhigen Natur
deutlicher aus als vielleicht im Leben, wo die jugendlich leichtlebige Liebens¬
würdigkeit den ihm innewohnenden Trotz noch verdeckte.

"Miß Sara Sampson" ist die erste bürgerliche Tragödie in Deutschland,
der erste Versuch, die Leidenschaft unabhängig vom Komplimentirbuch sprechen
zu lassen. Aber es ist nicht auf deutschem Boden gewachsen: englische Muster
schweben dem Dichter vor, hauptsächlich Nichardson, für dessen Grandison da¬
mals Gellert, Klopstock, Cramer, Zimmermann, Wieland, Ebert u. s. w. die
ausschweifendste Begeisterung aussprachen. Die Sitten siud weder englisch
noch deutsch, die Weinerlichkeit im Ton Scira's und ihres Vaters ist uner¬
träglich. Aber aus dieser weichherzigen Gesellschaft heben sich zwei Figuren
angenehm hervor, die freilich auch an englische Vorbilder erinnern, aber doch
dichterisch verarbeitet sind: Marwood, theatralisch die dankbarste Rolle, der


sehr von Gottsched unterscheidet, die entschiedenste Vorliebe für alles Possen¬
hafte, Verachtung aller Gravität und selbst einige Anlage zum Hanswurst.

Seine Briefe, die sich ungenirt über sämmtliche Gegenstände der Literatur
verbreiten, streben die Emanzipation Berlins von den bisherigen Zentralpunkten
Leipzig und Zürich an. Berlin müsse die wirkliche Hauptstadt werden; der
Standpunkt der Provinzen sei ein zurückgebliebener. Gottsched wird als
völlig abgethan behandelt, aber Bodmer kommt nicht besser fort. „Boomer
muß seinen Lesern eben das kalte Blut eines Fünfzigers zutrauen, womit er
eine ziemliche Anzahl von sehr langweiligen Erzählungen niedergeschrieben hat,
wenn er glaubt, daß sie an einem süßen Geschwätz von platonischer Liebe und
an einer ewigen Wiederholung von seraphischen Tändeleien Geschmack finden
konnten." — Darauf folgt die schon erwähnte Stelle über Wieland.

April 1755 gab Lessing zwei neue Stücke heraus: den „Freigeist" und
„Miß Sara Sampson".

Der „Freigeist" ist psychologisch von großem Juteresse: das Stück behan¬
delt mit plastischer Anschaulichkeit und aus der innern Erfahrung heraus eine
Frage, die damals von den Gelehrten abstrakt oft erörtert wurde: wieweit das
Rechtsgefühl der Stütze eines offenbarten Gesetzes entbehren könne? — Der
Aufbau des Stücks ist dem Französischen nachgebildet; aber es ist eine frische
lebendige Sprache darin und ein dramatischer Zug, der Alles zurückläßt, was
in jener Zeit geschrieben wurde. Die Peripetie in den Versuchen des edel-
denkender Geistlichen, das Herz des stolzen Freigeists zu gewinnen: daß er
nämlich die Fassung verliert, grob wird, und dadurch Adrast von seiner Offen¬
herzigkeit überzeugt, ist vortrefflich gedacht. Das Beste ist aber der Charakter
Adrast's selbst, der erste, den Lessing aus seinem Innern geschöpft hat; er ist
nachher in Tellheim und im Tempelherrn vertieft, aber schon jetzt spricht sich
der Dichter selbst in den Widersprüchen seiner starken aber unruhigen Natur
deutlicher aus als vielleicht im Leben, wo die jugendlich leichtlebige Liebens¬
würdigkeit den ihm innewohnenden Trotz noch verdeckte.

„Miß Sara Sampson" ist die erste bürgerliche Tragödie in Deutschland,
der erste Versuch, die Leidenschaft unabhängig vom Komplimentirbuch sprechen
zu lassen. Aber es ist nicht auf deutschem Boden gewachsen: englische Muster
schweben dem Dichter vor, hauptsächlich Nichardson, für dessen Grandison da¬
mals Gellert, Klopstock, Cramer, Zimmermann, Wieland, Ebert u. s. w. die
ausschweifendste Begeisterung aussprachen. Die Sitten siud weder englisch
noch deutsch, die Weinerlichkeit im Ton Scira's und ihres Vaters ist uner¬
träglich. Aber aus dieser weichherzigen Gesellschaft heben sich zwei Figuren
angenehm hervor, die freilich auch an englische Vorbilder erinnern, aber doch
dichterisch verarbeitet sind: Marwood, theatralisch die dankbarste Rolle, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/54>, abgerufen am 28.12.2024.