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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Tugend, den einzigen Trost bedrängter Seelen, die einzige Zuflucht der Ver¬
lassenen, suche mau uns nicht gänzlich abzusprechen."

Der eine dieser Korrespondenten war der später unter dem Namen Men¬
delssohn berühmt gewordene Moses (25 I.), Sohn eines armen Rabbiners
in Dessau, seit seinem 19. Jahre in Berlin eingewandert, wo er sich anfangs
sehr kümmerlich durchschlagen mußte, bis ein reicher Seidenhändler ihm den
Unterricht seiner Kinder anvertraute. Er hatte sich seine Kenntnisse mühsam
selbst errungen, und namentlich die Wolfische Philosophie sich gründlich ange¬
eignet. Durch eine hebräische Wochenschrift suchte er Aufklärung unter seinen
Glaubensgenossen zu verbreiten. -- Er war von kleiner Statur, etwas ver¬
wachsen, und hatte eine schwärzliche Gesichtsfarbe.

Hinter einer sehr bescheidenen Außenseite versteckte sich bei ihm viel Groll,
namentlich wo das Judenthum angegriffen wurde. Noch ein Menschenalter
später beschuldigte er Michaelis -- fälschlich -- behauptet zu haben, kein
Jude könne tugendhaft sein!

Zu der Abhandlung über Pope, die Febr. 1755 erschien, verband er sich
mit Lessing; er behandelte den philosophischen Theil, vom Wolfischen Stand-
punkt. Uebrigens wurde dieser Standpunkt auch von deutschen Dichtern ver¬
treten: auch Uz schrieb eine "Theodicee".

Die Franzosen in Berlin waren im Allgemeinen dagegegen. Von Pre-
montval erschien Febr. 1755: "<>u KnsarÄ sou3 l'vmxiro alö 1a xroviäonov";
er behauptete, es müsse einen Zufall geben, d. h. etwas, wofür sich ein zu¬
reichender Grund nicht angeben lasse, sonst könne es keine göttliche Vorsehung
geben. In ähnlichem Sinn sprach sich Prof. Beausobre aus: "1s ?/rr1wi>lÄni;
ralsonML", der dadurch mit den Freunden bekannt wurde, wie auch Pre-
moutval, der Moses ebenso paradox vorkam wie seine Schriften: springend in
seinen Launen und Gedanken, heute liebenswürdig, morgen unausstehlich.

Grade in jener Zeit machte Condillac (40 I.) den sehr ernstgemeinten
Versuch, den Sensualismus -- die Herleitung aller Ideen ans den Empfin¬
dungen-- wissenschaftlich zu begründen; aber von dieser Lehre wollte Moses
nichts wissen. "Die Franzosen, welche seit Malebranche keinen einzigen meta¬
physischen Kopf auszuweisen haben, machten die Artigkeit der Sitten zu ihrem
einzigen Augenmerk. Sie schrieben Werke xour 1s" aan"8, n, 1a pcxrtüs as keine
1o manas, und spotteten sehr witzig der düsteren Köpfe, deren Schriften noch
etwas mehr enthalten als das schöne Geschlecht lesen will. Die ehrlichen
Deutschen spotteten mit. Wie konnten sie anders? Sie, die gern die Hälfte
ihres Verstandes dahin geben, wenn ihnen die Franzosen nur zugestehn Wollen,
daß sie zu leben wissen."

Das war für die damalige Zeit höchst ungerecht: die Franzosen waren


Tugend, den einzigen Trost bedrängter Seelen, die einzige Zuflucht der Ver¬
lassenen, suche mau uns nicht gänzlich abzusprechen."

Der eine dieser Korrespondenten war der später unter dem Namen Men¬
delssohn berühmt gewordene Moses (25 I.), Sohn eines armen Rabbiners
in Dessau, seit seinem 19. Jahre in Berlin eingewandert, wo er sich anfangs
sehr kümmerlich durchschlagen mußte, bis ein reicher Seidenhändler ihm den
Unterricht seiner Kinder anvertraute. Er hatte sich seine Kenntnisse mühsam
selbst errungen, und namentlich die Wolfische Philosophie sich gründlich ange¬
eignet. Durch eine hebräische Wochenschrift suchte er Aufklärung unter seinen
Glaubensgenossen zu verbreiten. — Er war von kleiner Statur, etwas ver¬
wachsen, und hatte eine schwärzliche Gesichtsfarbe.

Hinter einer sehr bescheidenen Außenseite versteckte sich bei ihm viel Groll,
namentlich wo das Judenthum angegriffen wurde. Noch ein Menschenalter
später beschuldigte er Michaelis — fälschlich — behauptet zu haben, kein
Jude könne tugendhaft sein!

Zu der Abhandlung über Pope, die Febr. 1755 erschien, verband er sich
mit Lessing; er behandelte den philosophischen Theil, vom Wolfischen Stand-
punkt. Uebrigens wurde dieser Standpunkt auch von deutschen Dichtern ver¬
treten: auch Uz schrieb eine „Theodicee".

Die Franzosen in Berlin waren im Allgemeinen dagegegen. Von Pre-
montval erschien Febr. 1755: „<>u KnsarÄ sou3 l'vmxiro alö 1a xroviäonov";
er behauptete, es müsse einen Zufall geben, d. h. etwas, wofür sich ein zu¬
reichender Grund nicht angeben lasse, sonst könne es keine göttliche Vorsehung
geben. In ähnlichem Sinn sprach sich Prof. Beausobre aus: „1s ?/rr1wi>lÄni;
ralsonML", der dadurch mit den Freunden bekannt wurde, wie auch Pre-
moutval, der Moses ebenso paradox vorkam wie seine Schriften: springend in
seinen Launen und Gedanken, heute liebenswürdig, morgen unausstehlich.

Grade in jener Zeit machte Condillac (40 I.) den sehr ernstgemeinten
Versuch, den Sensualismus — die Herleitung aller Ideen ans den Empfin¬
dungen— wissenschaftlich zu begründen; aber von dieser Lehre wollte Moses
nichts wissen. „Die Franzosen, welche seit Malebranche keinen einzigen meta¬
physischen Kopf auszuweisen haben, machten die Artigkeit der Sitten zu ihrem
einzigen Augenmerk. Sie schrieben Werke xour 1s« aan«8, n, 1a pcxrtüs as keine
1o manas, und spotteten sehr witzig der düsteren Köpfe, deren Schriften noch
etwas mehr enthalten als das schöne Geschlecht lesen will. Die ehrlichen
Deutschen spotteten mit. Wie konnten sie anders? Sie, die gern die Hälfte
ihres Verstandes dahin geben, wenn ihnen die Franzosen nur zugestehn Wollen,
daß sie zu leben wissen."

Das war für die damalige Zeit höchst ungerecht: die Franzosen waren


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[0052] Tugend, den einzigen Trost bedrängter Seelen, die einzige Zuflucht der Ver¬ lassenen, suche mau uns nicht gänzlich abzusprechen." Der eine dieser Korrespondenten war der später unter dem Namen Men¬ delssohn berühmt gewordene Moses (25 I.), Sohn eines armen Rabbiners in Dessau, seit seinem 19. Jahre in Berlin eingewandert, wo er sich anfangs sehr kümmerlich durchschlagen mußte, bis ein reicher Seidenhändler ihm den Unterricht seiner Kinder anvertraute. Er hatte sich seine Kenntnisse mühsam selbst errungen, und namentlich die Wolfische Philosophie sich gründlich ange¬ eignet. Durch eine hebräische Wochenschrift suchte er Aufklärung unter seinen Glaubensgenossen zu verbreiten. — Er war von kleiner Statur, etwas ver¬ wachsen, und hatte eine schwärzliche Gesichtsfarbe. Hinter einer sehr bescheidenen Außenseite versteckte sich bei ihm viel Groll, namentlich wo das Judenthum angegriffen wurde. Noch ein Menschenalter später beschuldigte er Michaelis — fälschlich — behauptet zu haben, kein Jude könne tugendhaft sein! Zu der Abhandlung über Pope, die Febr. 1755 erschien, verband er sich mit Lessing; er behandelte den philosophischen Theil, vom Wolfischen Stand- punkt. Uebrigens wurde dieser Standpunkt auch von deutschen Dichtern ver¬ treten: auch Uz schrieb eine „Theodicee". Die Franzosen in Berlin waren im Allgemeinen dagegegen. Von Pre- montval erschien Febr. 1755: „<>u KnsarÄ sou3 l'vmxiro alö 1a xroviäonov"; er behauptete, es müsse einen Zufall geben, d. h. etwas, wofür sich ein zu¬ reichender Grund nicht angeben lasse, sonst könne es keine göttliche Vorsehung geben. In ähnlichem Sinn sprach sich Prof. Beausobre aus: „1s ?/rr1wi>lÄni; ralsonML", der dadurch mit den Freunden bekannt wurde, wie auch Pre- moutval, der Moses ebenso paradox vorkam wie seine Schriften: springend in seinen Launen und Gedanken, heute liebenswürdig, morgen unausstehlich. Grade in jener Zeit machte Condillac (40 I.) den sehr ernstgemeinten Versuch, den Sensualismus — die Herleitung aller Ideen ans den Empfin¬ dungen— wissenschaftlich zu begründen; aber von dieser Lehre wollte Moses nichts wissen. „Die Franzosen, welche seit Malebranche keinen einzigen meta¬ physischen Kopf auszuweisen haben, machten die Artigkeit der Sitten zu ihrem einzigen Augenmerk. Sie schrieben Werke xour 1s« aan«8, n, 1a pcxrtüs as keine 1o manas, und spotteten sehr witzig der düsteren Köpfe, deren Schriften noch etwas mehr enthalten als das schöne Geschlecht lesen will. Die ehrlichen Deutschen spotteten mit. Wie konnten sie anders? Sie, die gern die Hälfte ihres Verstandes dahin geben, wenn ihnen die Franzosen nur zugestehn Wollen, daß sie zu leben wissen." Das war für die damalige Zeit höchst ungerecht: die Franzosen waren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/52>, abgerufen am 29.12.2024.