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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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und verwahrt sich von herein gegen den Vorwurf, daß er an den Werken
unsrer Dichter eine Art Vivisektion verübt habe. Aber wenn irgendwo, so gilt
hier das Wort: "Hui s'sxonso, Geschmackloser sind wohl nie Gedichte
zur Unterlage für allerhand todten Belehrungsstoff gemißbraucht worden, als
in diesem Buche. Unbegreiflich, da doch die Auswahl Geschmack verräth!

Von der vornehmsten Aufgabe einer guten Interpretation von Dichterwerken,
der nämlich, durch das Herausschälen der Idee, durch den Nachweis des Stoffes
und der Quelle die dichterische Arbeit aufzuzeigen und den Einblick zu er¬
schließen in die Werkstatt des Dichters , davon scheint der Herausgeber gar
keine Ahnung zu haben. Oder sollte er sie vielleicht unter dem "ästhetisirenden
Raisonnement" verstanden haben, welches er absichtlich "ausgeschlossen" habe,
weil es "in dieser Hinsicht (!) ausreichende Nachschlagewerke genug gibt"? Wie?
Nachschlagewerke, in denen diese schwierigste aller Jnterpretativnsausgaben gelöst
wäre? Genug Nachschlagewerke? Ich bekenne, daß mir dieser Satz völlig unver¬
ständlich ist. Verstände der Verfasser unter "ästhetisirendem Raisonnement" das
bloße "Aufmerksammachen" auf einzelne "Schönheiten", dann müßte man ihm
Recht geben, wenn er dies von der Interpretation ausgeschlossen wissen wollte.
"Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" Nur ist auch derlei uicht
aus Nachschlagewerken zu lernen. Den ganzen geschichtlichen, geographischen und
naturgeschichtlichen Stoff, den der Herausgeber in seinen Anmerkungen aufge¬
häuft hat, den kann ich mir ans dem ersten, besten Konversationslexikon her-
ausklauben, in die geistige Werkstatt des Dichters führt mich kein Nachschlage¬
werk. Hätte ich wirklich das Bedürfniß, wie es der Herausgeber voraussetzt,
in Justinus Kerner's Gedicht: "Der reichste Fürst" mich bei dem Namen der
Stadt Worms über Lage und Geschichte der Stadt zu belehren, fühlte ich das
Verlangen, mich in Schiller's "Alpenjäger" bei dem Worte Gazelle über
den Unterschied von Gemse und Gazelle zu unterrichten, so würde mir jedes
Konversationslexikon beistehen und meiner Unkenntniß womöglich in besserem
Deutsch abhelfen als der Herausgeber mit seinen Anmerkungen: "Stadt am
linken Rheinufer (jetzt im Großherzogthum Hessen belegen), in welcher ehe¬
mals viele Reichstage gehalten sind" und "Gemse (zu den Hornthieren ge¬
hörig, wie die Antilopengattung; letztere umfaßt auch die Gazellen). Genau
genommen gehört die Gemse uicht zu den Gazellen." Wo aber Kerner die
Anekdote her hat, wie sie ursprünglich lautete, was der Dichter daraus ge¬
macht hat, was er mit dem ganzen Gedicht überhaupt wollte, also alles das,
was der Herausgeber unter "ästhetisirendem Raisonnement" zu verstehen scheint,
wo sind die Nachschlagewerke, in denen man sich hierüber belehren kann?

Gewisse geschichtliche, geographische, meinetwegen auch naturgeschichtliche
Kenntnisse sind zum Verständnisse vieler Gedichte nothwendig. Aber welch un-


Grenzboten II. Is78. 63

und verwahrt sich von herein gegen den Vorwurf, daß er an den Werken
unsrer Dichter eine Art Vivisektion verübt habe. Aber wenn irgendwo, so gilt
hier das Wort: „Hui s'sxonso, Geschmackloser sind wohl nie Gedichte
zur Unterlage für allerhand todten Belehrungsstoff gemißbraucht worden, als
in diesem Buche. Unbegreiflich, da doch die Auswahl Geschmack verräth!

Von der vornehmsten Aufgabe einer guten Interpretation von Dichterwerken,
der nämlich, durch das Herausschälen der Idee, durch den Nachweis des Stoffes
und der Quelle die dichterische Arbeit aufzuzeigen und den Einblick zu er¬
schließen in die Werkstatt des Dichters , davon scheint der Herausgeber gar
keine Ahnung zu haben. Oder sollte er sie vielleicht unter dem „ästhetisirenden
Raisonnement" verstanden haben, welches er absichtlich „ausgeschlossen" habe,
weil es „in dieser Hinsicht (!) ausreichende Nachschlagewerke genug gibt"? Wie?
Nachschlagewerke, in denen diese schwierigste aller Jnterpretativnsausgaben gelöst
wäre? Genug Nachschlagewerke? Ich bekenne, daß mir dieser Satz völlig unver¬
ständlich ist. Verstände der Verfasser unter „ästhetisirendem Raisonnement" das
bloße „Aufmerksammachen" auf einzelne „Schönheiten", dann müßte man ihm
Recht geben, wenn er dies von der Interpretation ausgeschlossen wissen wollte.
„Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen!" Nur ist auch derlei uicht
aus Nachschlagewerken zu lernen. Den ganzen geschichtlichen, geographischen und
naturgeschichtlichen Stoff, den der Herausgeber in seinen Anmerkungen aufge¬
häuft hat, den kann ich mir ans dem ersten, besten Konversationslexikon her-
ausklauben, in die geistige Werkstatt des Dichters führt mich kein Nachschlage¬
werk. Hätte ich wirklich das Bedürfniß, wie es der Herausgeber voraussetzt,
in Justinus Kerner's Gedicht: „Der reichste Fürst" mich bei dem Namen der
Stadt Worms über Lage und Geschichte der Stadt zu belehren, fühlte ich das
Verlangen, mich in Schiller's „Alpenjäger" bei dem Worte Gazelle über
den Unterschied von Gemse und Gazelle zu unterrichten, so würde mir jedes
Konversationslexikon beistehen und meiner Unkenntniß womöglich in besserem
Deutsch abhelfen als der Herausgeber mit seinen Anmerkungen: „Stadt am
linken Rheinufer (jetzt im Großherzogthum Hessen belegen), in welcher ehe¬
mals viele Reichstage gehalten sind" und „Gemse (zu den Hornthieren ge¬
hörig, wie die Antilopengattung; letztere umfaßt auch die Gazellen). Genau
genommen gehört die Gemse uicht zu den Gazellen." Wo aber Kerner die
Anekdote her hat, wie sie ursprünglich lautete, was der Dichter daraus ge¬
macht hat, was er mit dem ganzen Gedicht überhaupt wollte, also alles das,
was der Herausgeber unter „ästhetisirendem Raisonnement" zu verstehen scheint,
wo sind die Nachschlagewerke, in denen man sich hierüber belehren kann?

Gewisse geschichtliche, geographische, meinetwegen auch naturgeschichtliche
Kenntnisse sind zum Verständnisse vieler Gedichte nothwendig. Aber welch un-


Grenzboten II. Is78. 63
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/501>, abgerufen am 01.09.2024.