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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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auszuüben. Das Vademecum wurde mit Begierde gelesen, und bald hatte
Lessing das ganze Publikum auf seiner Seite. Eine mächtige Stütze fand er
in dem Göttinger Professor Michaelis (37 I.), der seit Hallers Abgang
nach Bern die Gelehrten Anzeigen leitete.

Wie wenig er noch mit sich selbst im Reinen war, zeigt ein Fall, der
gleich darauf eintrat. Mylius, sein alter Freund, hatte im Auftrag der
Göttinger Akademie eine naturwissenschaftliche Expedition nach London unter¬
nommen, war dort in Schulden gerathen, und endlich, 6. März 1754 im
Elend gestorben.

Lessing hatte ihn noch vor Kurzem öffentlich einen großen Dichter ge¬
nannt: als er nun die hinterlassenen Werke des verstorbenen Freundes her¬
ausgab, fand er, baß sie nichts taugten, und sprach diese Ueberzeugung in einer
so unbarmherzigen Schärfe, ja mit so unschönem Behagen aus, er fügte so
bittere Bemerkungen über den Charakter des Menschen hinzu, daß Schönaich
ausrief, er wünsche allen seinen Feinden solche Freunde und Herausgeber!

Es lag in seiner Art, die kritische Objektivität bis über die Grenzen des
Schicklichen zu treiben; und dabei war er doch subjektiven Eindrücken nicht
ganz unzugänglich.

Gereizt durch die Angriffe- Schönaich's, ließ er sich einmal verleiten, sogar
das Eheleben Gottscheds zu verhöhnen, was ihn gewiß nichts anging. "Die
Natur ist nicht ans zu treiben!" schreibt Ramler einmal. "Er kann einmal
in seinen Schriften derjenige gelinde, nachgebende, lustige Gesellschafter nicht
sein, der er doch im Leben ist." Der Eindruck, den die Zerstreutheit seines
Treibens ans die Andern machte, wurde noch geschärft durch die Parodoxie,
mit der er über sich selbst zu spotten liebte, durch sein Lob der Faulheit, die
Versicherung, sein einziger Grundsatz sei, keine Grundsätze zu haben, es käme
doch bei Allein "nischt" heraus u. s. w. -- "Lessing", schreibt Sulz er an
Bodmer, "ist "och vor dem Scheidewege. Er kann ganz gut oder auch ganz
schlecht werden. In seinen Reden ist er viel besser als in seinen Schriften,
und er scheint mir viel Verstand zu haben. Aber er hat anch noch viel Jugend,
und eine Auzahl älterer und jüngerer Halbgelehrten arbeiten daran, ihn schlecht
zu machen. Ich kann ihm nicht beikommen."

Dieselbe Ueberkraft indeß, die Lessing mitunter zu einem unschönen
Ausbruch trieb, befähigte ihn, wo es galt, der öffentlichen Meinung zu trotzen,
das wahrhaft Positive aus dem Schutt aufzusuchen.

"Ich kann mir keine angenehmere Beschäftigung denken, als die Namen be¬
rühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, un¬
verdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falsche" Verkleisterungen ihrer
Schwächen aufzulösen, kurz alles das in moralischem Verstände zu thun, was


auszuüben. Das Vademecum wurde mit Begierde gelesen, und bald hatte
Lessing das ganze Publikum auf seiner Seite. Eine mächtige Stütze fand er
in dem Göttinger Professor Michaelis (37 I.), der seit Hallers Abgang
nach Bern die Gelehrten Anzeigen leitete.

Wie wenig er noch mit sich selbst im Reinen war, zeigt ein Fall, der
gleich darauf eintrat. Mylius, sein alter Freund, hatte im Auftrag der
Göttinger Akademie eine naturwissenschaftliche Expedition nach London unter¬
nommen, war dort in Schulden gerathen, und endlich, 6. März 1754 im
Elend gestorben.

Lessing hatte ihn noch vor Kurzem öffentlich einen großen Dichter ge¬
nannt: als er nun die hinterlassenen Werke des verstorbenen Freundes her¬
ausgab, fand er, baß sie nichts taugten, und sprach diese Ueberzeugung in einer
so unbarmherzigen Schärfe, ja mit so unschönem Behagen aus, er fügte so
bittere Bemerkungen über den Charakter des Menschen hinzu, daß Schönaich
ausrief, er wünsche allen seinen Feinden solche Freunde und Herausgeber!

Es lag in seiner Art, die kritische Objektivität bis über die Grenzen des
Schicklichen zu treiben; und dabei war er doch subjektiven Eindrücken nicht
ganz unzugänglich.

Gereizt durch die Angriffe- Schönaich's, ließ er sich einmal verleiten, sogar
das Eheleben Gottscheds zu verhöhnen, was ihn gewiß nichts anging. „Die
Natur ist nicht ans zu treiben!" schreibt Ramler einmal. „Er kann einmal
in seinen Schriften derjenige gelinde, nachgebende, lustige Gesellschafter nicht
sein, der er doch im Leben ist." Der Eindruck, den die Zerstreutheit seines
Treibens ans die Andern machte, wurde noch geschärft durch die Parodoxie,
mit der er über sich selbst zu spotten liebte, durch sein Lob der Faulheit, die
Versicherung, sein einziger Grundsatz sei, keine Grundsätze zu haben, es käme
doch bei Allein „nischt" heraus u. s. w. — „Lessing", schreibt Sulz er an
Bodmer, „ist «och vor dem Scheidewege. Er kann ganz gut oder auch ganz
schlecht werden. In seinen Reden ist er viel besser als in seinen Schriften,
und er scheint mir viel Verstand zu haben. Aber er hat anch noch viel Jugend,
und eine Auzahl älterer und jüngerer Halbgelehrten arbeiten daran, ihn schlecht
zu machen. Ich kann ihm nicht beikommen."

Dieselbe Ueberkraft indeß, die Lessing mitunter zu einem unschönen
Ausbruch trieb, befähigte ihn, wo es galt, der öffentlichen Meinung zu trotzen,
das wahrhaft Positive aus dem Schutt aufzusuchen.

„Ich kann mir keine angenehmere Beschäftigung denken, als die Namen be¬
rühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, un¬
verdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falsche» Verkleisterungen ihrer
Schwächen aufzulösen, kurz alles das in moralischem Verstände zu thun, was


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[0049] auszuüben. Das Vademecum wurde mit Begierde gelesen, und bald hatte Lessing das ganze Publikum auf seiner Seite. Eine mächtige Stütze fand er in dem Göttinger Professor Michaelis (37 I.), der seit Hallers Abgang nach Bern die Gelehrten Anzeigen leitete. Wie wenig er noch mit sich selbst im Reinen war, zeigt ein Fall, der gleich darauf eintrat. Mylius, sein alter Freund, hatte im Auftrag der Göttinger Akademie eine naturwissenschaftliche Expedition nach London unter¬ nommen, war dort in Schulden gerathen, und endlich, 6. März 1754 im Elend gestorben. Lessing hatte ihn noch vor Kurzem öffentlich einen großen Dichter ge¬ nannt: als er nun die hinterlassenen Werke des verstorbenen Freundes her¬ ausgab, fand er, baß sie nichts taugten, und sprach diese Ueberzeugung in einer so unbarmherzigen Schärfe, ja mit so unschönem Behagen aus, er fügte so bittere Bemerkungen über den Charakter des Menschen hinzu, daß Schönaich ausrief, er wünsche allen seinen Feinden solche Freunde und Herausgeber! Es lag in seiner Art, die kritische Objektivität bis über die Grenzen des Schicklichen zu treiben; und dabei war er doch subjektiven Eindrücken nicht ganz unzugänglich. Gereizt durch die Angriffe- Schönaich's, ließ er sich einmal verleiten, sogar das Eheleben Gottscheds zu verhöhnen, was ihn gewiß nichts anging. „Die Natur ist nicht ans zu treiben!" schreibt Ramler einmal. „Er kann einmal in seinen Schriften derjenige gelinde, nachgebende, lustige Gesellschafter nicht sein, der er doch im Leben ist." Der Eindruck, den die Zerstreutheit seines Treibens ans die Andern machte, wurde noch geschärft durch die Parodoxie, mit der er über sich selbst zu spotten liebte, durch sein Lob der Faulheit, die Versicherung, sein einziger Grundsatz sei, keine Grundsätze zu haben, es käme doch bei Allein „nischt" heraus u. s. w. — „Lessing", schreibt Sulz er an Bodmer, „ist «och vor dem Scheidewege. Er kann ganz gut oder auch ganz schlecht werden. In seinen Reden ist er viel besser als in seinen Schriften, und er scheint mir viel Verstand zu haben. Aber er hat anch noch viel Jugend, und eine Auzahl älterer und jüngerer Halbgelehrten arbeiten daran, ihn schlecht zu machen. Ich kann ihm nicht beikommen." Dieselbe Ueberkraft indeß, die Lessing mitunter zu einem unschönen Ausbruch trieb, befähigte ihn, wo es galt, der öffentlichen Meinung zu trotzen, das wahrhaft Positive aus dem Schutt aufzusuchen. „Ich kann mir keine angenehmere Beschäftigung denken, als die Namen be¬ rühmter Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu untersuchen, un¬ verdiente Flecken ihnen abzuwischen, die falsche» Verkleisterungen ihrer Schwächen aufzulösen, kurz alles das in moralischem Verstände zu thun, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/49>, abgerufen am 27.07.2024.