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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Gymnasialklassen darin häufig eine wahrhaft erschreckende Unwissenheit bekunden,
und leider ist sie nicht unberechtigt. Doch dies scheint uns weniger an der
Organisation des Unterrichts selbst als an seiner Handhabung zu liegen. Die
besondern Stunden für Geographie pflegen allerdings mit Obertertia bezüglich
Untersekunda abzuschließen; wird aber wirklich die Vorschrift der Nepetitivn in
den obern Klassen ernst genommen, wie sie es soll, und nimmt der Lehrer
bei der Darstellung historischer Ereignisse Gelegenheit, Einzelnes nicht nnr zu
wiederholen, sondern weiter führend zu ergänzen, wozu er hundertfach sich
aufgefordert fühlen muß, so muß und wird jene alte Klage verschwinden. Die
mathematisch-physikalische Geographie aber wird sich leicht an den mathematisch¬
physikalischen Unterricht der obersten Stufen anschließen und erst dann mit
wirklichem Nutzen behandeln lassen.

Sehr lebhafte Klage führt Du Bois-Reymond über die mangelhaften
Ergebnisse des Unterrichts im Deutschen für die Handhabung der Mutter¬
sprache. Wir gestehen, daß diese uns ebenso überraschend als unbegreiflich ist.
Gewiß hat er an den mit ihm in Berührung kommenden angehenden Medi¬
zinern schlechte Erfahrungen gemacht, aber gegen eine Verallgemeinerung der¬
selben muß man sich doch entschieden verwahren. Uns scheint vielmehr der
heutige Unterricht im Deutschen, befindet er sich anders in rechten Händen, wenig
zu wünschen übrig zu lassen. Die Regulative schon geben ziemlich eingehende
Vorschriften, und werden die ausführlichen Anweisungen, wie sie z. B. Laas in
seinem vortrefflichen Buche über deu deutschen Unterricht entwickelt, nur einiger¬
maßen benützt, so kann füglich von einer Vernachlässigung der Muttersprache,
deren Ausbildung ja auch durch jede andere Stunde unterstützt werden muß, im
Ernste nicht mehr die Rede sein. Freilich als Sinemre darf den deutschen
Unterricht Niemand betrachten.

Eine Spezialfrage betrifft sodann die Einfügung des Mittelhochdeutschen in
den Lehrplan der höheren Schulen. Sie ist von verschiedenen Seiten in neuerer Zeit
wieder verneint worden. Wir glauben mit Unrecht. Das Mittelhochdeutsche wird sich
so wie so auf die IIr beschränken und also wahrhaftig keinen übermäßigen
Raum für sich in Anspruch nehmen; es wird und soll nicht grammatisch, sondern
nur zum Zweck der Lektüre betrieben werden und diese selbst sich im Ganzen
nur auf Nibelungenlied und Walther richten. Und das Zugeständniß wird man
uns machen, daß die Einführung in die Vergangenheit der Muttersprache schon
aus nationalem Interesse im höchsten Maße wünschenswert!) ist, und daß hier,
in der mittelhochdeutschen Literatur, eine Uebersetzung nicht entfernt das Original
zu ersetzen vermag.

Zum Schlüsse bleibt noch die heikle Frage des Religionsunterrichts
in den oberen Klassen. Dn Bois-Reymond fordert geradezu seine Beseitigung


Gymnasialklassen darin häufig eine wahrhaft erschreckende Unwissenheit bekunden,
und leider ist sie nicht unberechtigt. Doch dies scheint uns weniger an der
Organisation des Unterrichts selbst als an seiner Handhabung zu liegen. Die
besondern Stunden für Geographie pflegen allerdings mit Obertertia bezüglich
Untersekunda abzuschließen; wird aber wirklich die Vorschrift der Nepetitivn in
den obern Klassen ernst genommen, wie sie es soll, und nimmt der Lehrer
bei der Darstellung historischer Ereignisse Gelegenheit, Einzelnes nicht nnr zu
wiederholen, sondern weiter führend zu ergänzen, wozu er hundertfach sich
aufgefordert fühlen muß, so muß und wird jene alte Klage verschwinden. Die
mathematisch-physikalische Geographie aber wird sich leicht an den mathematisch¬
physikalischen Unterricht der obersten Stufen anschließen und erst dann mit
wirklichem Nutzen behandeln lassen.

Sehr lebhafte Klage führt Du Bois-Reymond über die mangelhaften
Ergebnisse des Unterrichts im Deutschen für die Handhabung der Mutter¬
sprache. Wir gestehen, daß diese uns ebenso überraschend als unbegreiflich ist.
Gewiß hat er an den mit ihm in Berührung kommenden angehenden Medi¬
zinern schlechte Erfahrungen gemacht, aber gegen eine Verallgemeinerung der¬
selben muß man sich doch entschieden verwahren. Uns scheint vielmehr der
heutige Unterricht im Deutschen, befindet er sich anders in rechten Händen, wenig
zu wünschen übrig zu lassen. Die Regulative schon geben ziemlich eingehende
Vorschriften, und werden die ausführlichen Anweisungen, wie sie z. B. Laas in
seinem vortrefflichen Buche über deu deutschen Unterricht entwickelt, nur einiger¬
maßen benützt, so kann füglich von einer Vernachlässigung der Muttersprache,
deren Ausbildung ja auch durch jede andere Stunde unterstützt werden muß, im
Ernste nicht mehr die Rede sein. Freilich als Sinemre darf den deutschen
Unterricht Niemand betrachten.

Eine Spezialfrage betrifft sodann die Einfügung des Mittelhochdeutschen in
den Lehrplan der höheren Schulen. Sie ist von verschiedenen Seiten in neuerer Zeit
wieder verneint worden. Wir glauben mit Unrecht. Das Mittelhochdeutsche wird sich
so wie so auf die IIr beschränken und also wahrhaftig keinen übermäßigen
Raum für sich in Anspruch nehmen; es wird und soll nicht grammatisch, sondern
nur zum Zweck der Lektüre betrieben werden und diese selbst sich im Ganzen
nur auf Nibelungenlied und Walther richten. Und das Zugeständniß wird man
uns machen, daß die Einführung in die Vergangenheit der Muttersprache schon
aus nationalem Interesse im höchsten Maße wünschenswert!) ist, und daß hier,
in der mittelhochdeutschen Literatur, eine Uebersetzung nicht entfernt das Original
zu ersetzen vermag.

Zum Schlüsse bleibt noch die heikle Frage des Religionsunterrichts
in den oberen Klassen. Dn Bois-Reymond fordert geradezu seine Beseitigung


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[0417] Gymnasialklassen darin häufig eine wahrhaft erschreckende Unwissenheit bekunden, und leider ist sie nicht unberechtigt. Doch dies scheint uns weniger an der Organisation des Unterrichts selbst als an seiner Handhabung zu liegen. Die besondern Stunden für Geographie pflegen allerdings mit Obertertia bezüglich Untersekunda abzuschließen; wird aber wirklich die Vorschrift der Nepetitivn in den obern Klassen ernst genommen, wie sie es soll, und nimmt der Lehrer bei der Darstellung historischer Ereignisse Gelegenheit, Einzelnes nicht nnr zu wiederholen, sondern weiter führend zu ergänzen, wozu er hundertfach sich aufgefordert fühlen muß, so muß und wird jene alte Klage verschwinden. Die mathematisch-physikalische Geographie aber wird sich leicht an den mathematisch¬ physikalischen Unterricht der obersten Stufen anschließen und erst dann mit wirklichem Nutzen behandeln lassen. Sehr lebhafte Klage führt Du Bois-Reymond über die mangelhaften Ergebnisse des Unterrichts im Deutschen für die Handhabung der Mutter¬ sprache. Wir gestehen, daß diese uns ebenso überraschend als unbegreiflich ist. Gewiß hat er an den mit ihm in Berührung kommenden angehenden Medi¬ zinern schlechte Erfahrungen gemacht, aber gegen eine Verallgemeinerung der¬ selben muß man sich doch entschieden verwahren. Uns scheint vielmehr der heutige Unterricht im Deutschen, befindet er sich anders in rechten Händen, wenig zu wünschen übrig zu lassen. Die Regulative schon geben ziemlich eingehende Vorschriften, und werden die ausführlichen Anweisungen, wie sie z. B. Laas in seinem vortrefflichen Buche über deu deutschen Unterricht entwickelt, nur einiger¬ maßen benützt, so kann füglich von einer Vernachlässigung der Muttersprache, deren Ausbildung ja auch durch jede andere Stunde unterstützt werden muß, im Ernste nicht mehr die Rede sein. Freilich als Sinemre darf den deutschen Unterricht Niemand betrachten. Eine Spezialfrage betrifft sodann die Einfügung des Mittelhochdeutschen in den Lehrplan der höheren Schulen. Sie ist von verschiedenen Seiten in neuerer Zeit wieder verneint worden. Wir glauben mit Unrecht. Das Mittelhochdeutsche wird sich so wie so auf die IIr beschränken und also wahrhaftig keinen übermäßigen Raum für sich in Anspruch nehmen; es wird und soll nicht grammatisch, sondern nur zum Zweck der Lektüre betrieben werden und diese selbst sich im Ganzen nur auf Nibelungenlied und Walther richten. Und das Zugeständniß wird man uns machen, daß die Einführung in die Vergangenheit der Muttersprache schon aus nationalem Interesse im höchsten Maße wünschenswert!) ist, und daß hier, in der mittelhochdeutschen Literatur, eine Uebersetzung nicht entfernt das Original zu ersetzen vermag. Zum Schlüsse bleibt noch die heikle Frage des Religionsunterrichts in den oberen Klassen. Dn Bois-Reymond fordert geradezu seine Beseitigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/417>, abgerufen am 01.09.2024.