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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Kulturgeschichte. Wir nehmen uns die Freiheit darauf zu entgegnen, daß der
berühmte Naturforscher sich dabei wohl mehr von dem, was ihm von Interesse
ist, als von den Bedürfnissen der Jugend hat leiten lassen und daß er mit
seinen Ausstellungen Zustände im Auge hat, die heute doch nur noch als
Allsnahme bestehen können. Es wird heute Niemand mehr einfallen, im
Auswendiglernen von Namen und Zahlen das Wesen der Geschichte zu erblicken.
Aber man wird auch hier gut thun, zwischen dem Unterrichte in den oberen
und dem in den unteren Klassen zu unterscheiden. In diesen kommt es sicher
darauf an, neben einer Reihe lebendiger Einzelbilder am liebsten in biogra¬
phischen Rahmen dem Knaben eine Reihe fester Daten und Zahlen sicher
einzuprägen, eben damit man ihn mit diesem "Einpauker" in späteren Jahren,
wo das Verständniß entwickelter ist, verschonen kann, ganz so, wie der sprach¬
liche Unterricht auf den unteren Stufen die sichere EinPrägung der Formen¬
lehre als seine Hauptaufgabe betrachten muß. Auf den oberen Stufen dagegen
kommt es auf die gedächtnißmäßige Aneignung weniger an -- eine so große
Rolle sie auch der Natur des Gegenstandes nach noch spielen muß -- als auf
eine mehr verstandesmüßige Durchdringung seitens der Schüler und die Erregung
ihres warmen Interesses durch den Lehrer. Freilich darf dann die Reife des
Abiturienten in der Geschichte nicht nach der Masse der Thatsachen und Jahr¬
zahlen bemessen werden, die er im Kopfe hat und im Examen prästirt; das würde
zu heillosen Dritten führen und das sittlich bildende Element des Geschichts¬
unterrichts geradezu zu Gunsten der Prnfungsparade zerstören. Und was dann
jene Details betrifft, die Du Bois-Reymond so unnütz findet, so muß doch
daran festgehalten werden, daß eine Darstellung, die nicht einigermaßen in's
Detail geht, gar keinen Eindruck macht und also weder haftet noch anregt,
daß also z. B. die römischen Parteikämpfe ohne Eingehen in Einzelheiten
gar nicht zu behandeln sind, und ebenso wenig die "mittelalterlichen Zänkereien
zwischen Kaiser und Papst", ganz abgesehen noch davon, daß man diese welt¬
erschütternden Kämpfe, welche ganze Generationen bis in ihre tiefsten Tiefen
aufregten und deren Ausgang das Schicksal unseres mittelalterlichen Königthums,
damit aber unsere ganze politische Entwicklung bestimmt haben, nicht wohl
"Zänkereien" nennen kann. Und nun die Kulturgeschichte! Du Bois-Reymond
wird uns ohne Weiteres zugeben, daß von dieser nur auf den obersten Stufen
überhaupt die Rede sein kann. Und selbst für diese bietet der Gegenstand
außerordentliche Schwierigkeiten, sobald man umfassende Kulturgemälde fordert.
Was heißt denn Kulturgeschichte? Doch wohl Geschichte der wissenschaftlichen,
künstlerischen, sittlich-religiösen, volkswirtschaftlichen Entwicklung. Nun enthält
schon der jetzige Unterricht unserer höheren Schulen sehr bedeutende kultur¬
geschichtliche Elemente; nimmt doch im deutschen Unterricht die Literaturgeschichte


Kulturgeschichte. Wir nehmen uns die Freiheit darauf zu entgegnen, daß der
berühmte Naturforscher sich dabei wohl mehr von dem, was ihm von Interesse
ist, als von den Bedürfnissen der Jugend hat leiten lassen und daß er mit
seinen Ausstellungen Zustände im Auge hat, die heute doch nur noch als
Allsnahme bestehen können. Es wird heute Niemand mehr einfallen, im
Auswendiglernen von Namen und Zahlen das Wesen der Geschichte zu erblicken.
Aber man wird auch hier gut thun, zwischen dem Unterrichte in den oberen
und dem in den unteren Klassen zu unterscheiden. In diesen kommt es sicher
darauf an, neben einer Reihe lebendiger Einzelbilder am liebsten in biogra¬
phischen Rahmen dem Knaben eine Reihe fester Daten und Zahlen sicher
einzuprägen, eben damit man ihn mit diesem „Einpauker" in späteren Jahren,
wo das Verständniß entwickelter ist, verschonen kann, ganz so, wie der sprach¬
liche Unterricht auf den unteren Stufen die sichere EinPrägung der Formen¬
lehre als seine Hauptaufgabe betrachten muß. Auf den oberen Stufen dagegen
kommt es auf die gedächtnißmäßige Aneignung weniger an — eine so große
Rolle sie auch der Natur des Gegenstandes nach noch spielen muß — als auf
eine mehr verstandesmüßige Durchdringung seitens der Schüler und die Erregung
ihres warmen Interesses durch den Lehrer. Freilich darf dann die Reife des
Abiturienten in der Geschichte nicht nach der Masse der Thatsachen und Jahr¬
zahlen bemessen werden, die er im Kopfe hat und im Examen prästirt; das würde
zu heillosen Dritten führen und das sittlich bildende Element des Geschichts¬
unterrichts geradezu zu Gunsten der Prnfungsparade zerstören. Und was dann
jene Details betrifft, die Du Bois-Reymond so unnütz findet, so muß doch
daran festgehalten werden, daß eine Darstellung, die nicht einigermaßen in's
Detail geht, gar keinen Eindruck macht und also weder haftet noch anregt,
daß also z. B. die römischen Parteikämpfe ohne Eingehen in Einzelheiten
gar nicht zu behandeln sind, und ebenso wenig die „mittelalterlichen Zänkereien
zwischen Kaiser und Papst", ganz abgesehen noch davon, daß man diese welt¬
erschütternden Kämpfe, welche ganze Generationen bis in ihre tiefsten Tiefen
aufregten und deren Ausgang das Schicksal unseres mittelalterlichen Königthums,
damit aber unsere ganze politische Entwicklung bestimmt haben, nicht wohl
„Zänkereien" nennen kann. Und nun die Kulturgeschichte! Du Bois-Reymond
wird uns ohne Weiteres zugeben, daß von dieser nur auf den obersten Stufen
überhaupt die Rede sein kann. Und selbst für diese bietet der Gegenstand
außerordentliche Schwierigkeiten, sobald man umfassende Kulturgemälde fordert.
Was heißt denn Kulturgeschichte? Doch wohl Geschichte der wissenschaftlichen,
künstlerischen, sittlich-religiösen, volkswirtschaftlichen Entwicklung. Nun enthält
schon der jetzige Unterricht unserer höheren Schulen sehr bedeutende kultur¬
geschichtliche Elemente; nimmt doch im deutschen Unterricht die Literaturgeschichte


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[0415] Kulturgeschichte. Wir nehmen uns die Freiheit darauf zu entgegnen, daß der berühmte Naturforscher sich dabei wohl mehr von dem, was ihm von Interesse ist, als von den Bedürfnissen der Jugend hat leiten lassen und daß er mit seinen Ausstellungen Zustände im Auge hat, die heute doch nur noch als Allsnahme bestehen können. Es wird heute Niemand mehr einfallen, im Auswendiglernen von Namen und Zahlen das Wesen der Geschichte zu erblicken. Aber man wird auch hier gut thun, zwischen dem Unterrichte in den oberen und dem in den unteren Klassen zu unterscheiden. In diesen kommt es sicher darauf an, neben einer Reihe lebendiger Einzelbilder am liebsten in biogra¬ phischen Rahmen dem Knaben eine Reihe fester Daten und Zahlen sicher einzuprägen, eben damit man ihn mit diesem „Einpauker" in späteren Jahren, wo das Verständniß entwickelter ist, verschonen kann, ganz so, wie der sprach¬ liche Unterricht auf den unteren Stufen die sichere EinPrägung der Formen¬ lehre als seine Hauptaufgabe betrachten muß. Auf den oberen Stufen dagegen kommt es auf die gedächtnißmäßige Aneignung weniger an — eine so große Rolle sie auch der Natur des Gegenstandes nach noch spielen muß — als auf eine mehr verstandesmüßige Durchdringung seitens der Schüler und die Erregung ihres warmen Interesses durch den Lehrer. Freilich darf dann die Reife des Abiturienten in der Geschichte nicht nach der Masse der Thatsachen und Jahr¬ zahlen bemessen werden, die er im Kopfe hat und im Examen prästirt; das würde zu heillosen Dritten führen und das sittlich bildende Element des Geschichts¬ unterrichts geradezu zu Gunsten der Prnfungsparade zerstören. Und was dann jene Details betrifft, die Du Bois-Reymond so unnütz findet, so muß doch daran festgehalten werden, daß eine Darstellung, die nicht einigermaßen in's Detail geht, gar keinen Eindruck macht und also weder haftet noch anregt, daß also z. B. die römischen Parteikämpfe ohne Eingehen in Einzelheiten gar nicht zu behandeln sind, und ebenso wenig die „mittelalterlichen Zänkereien zwischen Kaiser und Papst", ganz abgesehen noch davon, daß man diese welt¬ erschütternden Kämpfe, welche ganze Generationen bis in ihre tiefsten Tiefen aufregten und deren Ausgang das Schicksal unseres mittelalterlichen Königthums, damit aber unsere ganze politische Entwicklung bestimmt haben, nicht wohl „Zänkereien" nennen kann. Und nun die Kulturgeschichte! Du Bois-Reymond wird uns ohne Weiteres zugeben, daß von dieser nur auf den obersten Stufen überhaupt die Rede sein kann. Und selbst für diese bietet der Gegenstand außerordentliche Schwierigkeiten, sobald man umfassende Kulturgemälde fordert. Was heißt denn Kulturgeschichte? Doch wohl Geschichte der wissenschaftlichen, künstlerischen, sittlich-religiösen, volkswirtschaftlichen Entwicklung. Nun enthält schon der jetzige Unterricht unserer höheren Schulen sehr bedeutende kultur¬ geschichtliche Elemente; nimmt doch im deutschen Unterricht die Literaturgeschichte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/415>, abgerufen am 01.09.2024.