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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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eine überaus schwache war. Die betreffenden Redner mühten sich ab, zu beweisen,
was von Niemandem bestritten ward, nämlich das Vorhandensein einer wirk¬
lichen Gefahr, mit welcher Staat und Gesellschaft durch die socialdemokratische
Agitation bedroht werden. Keiner von ihnen aber vermochte eine triftige Er¬
widerung auf den Einwand zu geben, warum denn grade in diesem äußersten
Augenblicke der Session urplötzlich noch ein gesetzgeberischer Akt dringend noth¬
wendig sei, welcher bei seiner ganz ausnahmsweise" rechtlichen und praktischen
Bedeutung hingereicht haben würde, einer ganzen Session die Signatur zu
geben. War das Attentat vom 11. Mai, wie die Regierung ver¬
sicherte, nicht der Grund, sondern nur die äußere Veranlassung der Vorlage,
war die Regierung von der Nothwendigkeit einer Bekämpfung der Sozialdemo¬
kratie in der jetzt vorgeschlagenen Weise wirklich schon längst überzeugt, so
klagt sie sich damit selbst der schwersten Versäumniß an, deun es ist alsdann
nicht abzusehen, warum sie mit diesem Gesetzentwurf statt am Ende, nicht bereits
am Anfang der Reichstagsarbeiteu hervortrat. Andererseits aber: war sie, wie
man nach ihrer bisherigen Unthätigkeit vermuthen muß, der Ausicht, daß der
Zeitpunkt zu einem so scharfen gesetzgeberischen Vorgehen noch nicht gekommen
sei, so versteht man nicht, wie die ganz isolirt dastehende Frevelthat eines
verwilderten Buben sie plötzlich vollständig andern Sinnes machen konnte.
Daß der von Kindesbeinen an zu allen Verbrechen veranlagte Hödel in der
sozialistischen Wühlerei vollends verdreht und verdorben worden ist, wird nie¬
mand bestreiten. Aber wer glaubt im Ernst, daß mit der Unterdrückung
sozialistischer Druckschriften und Vereine eine Garantie gegen Attentate geschaffen
werde? Ist dies aber unmöglich, so mußte unseres Trachtens das Ereignis;
vom 11. Mai mit der Frage der weiteren Bekämpfung der sozialistischen Agi¬
tation gar nicht verquickt werden. Daß die Regierung, indem sie dies dennoch
that, einen politischen Fehler gemacht hat, liegt klar zu Tage. Die einmüthige
Entrüstung über die vernichte That und die herzlichen Beweise verehrungs¬
voller Hingebung an den Kaiser, wie sie die ganze Nation gezeigt, waren in
der That zugleich Symptome eines, wie es Bennigsen treffend bezeichnet hat,
beginnenden Gesuudnngsprozesses in den von den sozialistischen Theorien an¬
gesteckten Massen. Dieser Prozeß ist durch das Dazwischentreten der in Rede
stehenden Gesetzesvorlage in höchst bedauerlicher Weise unterbrochen worden.
Schon um dieses wahrlich vorherzusehenden Nachtheils willen Hütte die Regie¬
rung dreifach überlegen sollen, ob nicht zum Mindesten eine Verschiebung des
beabsichtigten legislatorische Vorgehens um einige Monate zweckmäßig gewesen
wäre.

Indeß, die Regierung hat alle diese Rücksichten außer Acht gelassen und
ohne die leiseste Fühlung mit der ausschlaggebenden Partei des Reichstags in


eine überaus schwache war. Die betreffenden Redner mühten sich ab, zu beweisen,
was von Niemandem bestritten ward, nämlich das Vorhandensein einer wirk¬
lichen Gefahr, mit welcher Staat und Gesellschaft durch die socialdemokratische
Agitation bedroht werden. Keiner von ihnen aber vermochte eine triftige Er¬
widerung auf den Einwand zu geben, warum denn grade in diesem äußersten
Augenblicke der Session urplötzlich noch ein gesetzgeberischer Akt dringend noth¬
wendig sei, welcher bei seiner ganz ausnahmsweise» rechtlichen und praktischen
Bedeutung hingereicht haben würde, einer ganzen Session die Signatur zu
geben. War das Attentat vom 11. Mai, wie die Regierung ver¬
sicherte, nicht der Grund, sondern nur die äußere Veranlassung der Vorlage,
war die Regierung von der Nothwendigkeit einer Bekämpfung der Sozialdemo¬
kratie in der jetzt vorgeschlagenen Weise wirklich schon längst überzeugt, so
klagt sie sich damit selbst der schwersten Versäumniß an, deun es ist alsdann
nicht abzusehen, warum sie mit diesem Gesetzentwurf statt am Ende, nicht bereits
am Anfang der Reichstagsarbeiteu hervortrat. Andererseits aber: war sie, wie
man nach ihrer bisherigen Unthätigkeit vermuthen muß, der Ausicht, daß der
Zeitpunkt zu einem so scharfen gesetzgeberischen Vorgehen noch nicht gekommen
sei, so versteht man nicht, wie die ganz isolirt dastehende Frevelthat eines
verwilderten Buben sie plötzlich vollständig andern Sinnes machen konnte.
Daß der von Kindesbeinen an zu allen Verbrechen veranlagte Hödel in der
sozialistischen Wühlerei vollends verdreht und verdorben worden ist, wird nie¬
mand bestreiten. Aber wer glaubt im Ernst, daß mit der Unterdrückung
sozialistischer Druckschriften und Vereine eine Garantie gegen Attentate geschaffen
werde? Ist dies aber unmöglich, so mußte unseres Trachtens das Ereignis;
vom 11. Mai mit der Frage der weiteren Bekämpfung der sozialistischen Agi¬
tation gar nicht verquickt werden. Daß die Regierung, indem sie dies dennoch
that, einen politischen Fehler gemacht hat, liegt klar zu Tage. Die einmüthige
Entrüstung über die vernichte That und die herzlichen Beweise verehrungs¬
voller Hingebung an den Kaiser, wie sie die ganze Nation gezeigt, waren in
der That zugleich Symptome eines, wie es Bennigsen treffend bezeichnet hat,
beginnenden Gesuudnngsprozesses in den von den sozialistischen Theorien an¬
gesteckten Massen. Dieser Prozeß ist durch das Dazwischentreten der in Rede
stehenden Gesetzesvorlage in höchst bedauerlicher Weise unterbrochen worden.
Schon um dieses wahrlich vorherzusehenden Nachtheils willen Hütte die Regie¬
rung dreifach überlegen sollen, ob nicht zum Mindesten eine Verschiebung des
beabsichtigten legislatorische Vorgehens um einige Monate zweckmäßig gewesen
wäre.

Indeß, die Regierung hat alle diese Rücksichten außer Acht gelassen und
ohne die leiseste Fühlung mit der ausschlaggebenden Partei des Reichstags in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/396>, abgerufen am 01.09.2024.