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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Straßendemonstration in Berlin. Einer ihrer vorzüglichsten Organisatoren,
im Uebrigen ein einfacher und unbekannter Arbeiter, August Heinsch, starb
eines jähen Todes; noch in jungen Jahren raffte ihn ein Blutsturz dahin, viel¬
leicht, ja wahrscheinlich in Folge der übermäßigen Anstrengungen, denen er
sich im Interesse der Partei unterzogen hatte. In solchen Arbeitern, wie diesem
in keiner Beziehung irgend hervorragenden Setzer, der persönlich in jeder Be¬
ziehung höchst achtbar war, ehrlich und redlich sich von seiner Arbeit und nicht
vom Schwatzen nährte, aber was ihm an Kraft übrig blieb, ganz und voll
an die Sache setzte, welcher er sein Leben gewidmet hatte, liegt jene eigenthüm¬
liche Spannkraft, jene rastlose Energie, welche der sozialdemokratischen Propa¬
ganda unstreitig eigen ist. Gerade unter den intelligenten und strebsamen
Schichten des Arbeiterstandes sind solche Gestalten nicht selten; träten sie mehr
in den Vordergrund, so würde man eine anschaulichere und richtigere Vorstel¬
lung von der drohenden Gefahr gewinnen, als durch den Schwarm der jetzigen
"Führer", denen gemeiniglich nur eine ungewöhnlich entwickelte Volubilität der
Zunge an die Oberfläche geholfen hat. Die Partei ehrte die Verdienste des
geschiedenen Genossen durch ein feierliches Begräbniß, wie es seit dem Leichen-
begängniß der Märzkämpfer vor dreißig und Waldeck's vor acht Jahren in
Berlin nicht wieder gesehen worden ist. Vielleicht zwölftausend Männer und
tausend Frauen folgten in rangirter Reihe; dazu begleitete eine unabsehbare
Menschenmenge den Zug. Es würde thöricht sein, diese Demonstration ver¬
kleinern zu wollen, um so thörichter, als augenblicklich vielleicht keine andere
Partei in der deutschen Hauptstadt Aehnliches zu inszeniren vermöchte, allein
noch weniger angezeigt ist ein bleicher Schrecken, als hätte in dem dumpfen
Schritte jener Massen schon die nahende Revolution gegrollt. Bei einiger Ge-
schicklichkeit und Rührigkeit lassen sich in einer industriellen Millionenstadt
solche Aufzüge nicht gar zu schwer arrangiren, und wenn es vielleicht heute nur
die Sozialdemokratie kann und keine andere Partei, so ist das für sie ein
Kompliment und für ihre Gegner ein Tadel, aber es ist noch lange nicht das
gefährlichste Symptome der ganzen Bewegung.


Franz Mehring.


Ärenzbvtcu II. 1L78.

Straßendemonstration in Berlin. Einer ihrer vorzüglichsten Organisatoren,
im Uebrigen ein einfacher und unbekannter Arbeiter, August Heinsch, starb
eines jähen Todes; noch in jungen Jahren raffte ihn ein Blutsturz dahin, viel¬
leicht, ja wahrscheinlich in Folge der übermäßigen Anstrengungen, denen er
sich im Interesse der Partei unterzogen hatte. In solchen Arbeitern, wie diesem
in keiner Beziehung irgend hervorragenden Setzer, der persönlich in jeder Be¬
ziehung höchst achtbar war, ehrlich und redlich sich von seiner Arbeit und nicht
vom Schwatzen nährte, aber was ihm an Kraft übrig blieb, ganz und voll
an die Sache setzte, welcher er sein Leben gewidmet hatte, liegt jene eigenthüm¬
liche Spannkraft, jene rastlose Energie, welche der sozialdemokratischen Propa¬
ganda unstreitig eigen ist. Gerade unter den intelligenten und strebsamen
Schichten des Arbeiterstandes sind solche Gestalten nicht selten; träten sie mehr
in den Vordergrund, so würde man eine anschaulichere und richtigere Vorstel¬
lung von der drohenden Gefahr gewinnen, als durch den Schwarm der jetzigen
„Führer", denen gemeiniglich nur eine ungewöhnlich entwickelte Volubilität der
Zunge an die Oberfläche geholfen hat. Die Partei ehrte die Verdienste des
geschiedenen Genossen durch ein feierliches Begräbniß, wie es seit dem Leichen-
begängniß der Märzkämpfer vor dreißig und Waldeck's vor acht Jahren in
Berlin nicht wieder gesehen worden ist. Vielleicht zwölftausend Männer und
tausend Frauen folgten in rangirter Reihe; dazu begleitete eine unabsehbare
Menschenmenge den Zug. Es würde thöricht sein, diese Demonstration ver¬
kleinern zu wollen, um so thörichter, als augenblicklich vielleicht keine andere
Partei in der deutschen Hauptstadt Aehnliches zu inszeniren vermöchte, allein
noch weniger angezeigt ist ein bleicher Schrecken, als hätte in dem dumpfen
Schritte jener Massen schon die nahende Revolution gegrollt. Bei einiger Ge-
schicklichkeit und Rührigkeit lassen sich in einer industriellen Millionenstadt
solche Aufzüge nicht gar zu schwer arrangiren, und wenn es vielleicht heute nur
die Sozialdemokratie kann und keine andere Partei, so ist das für sie ein
Kompliment und für ihre Gegner ein Tadel, aber es ist noch lange nicht das
gefährlichste Symptome der ganzen Bewegung.


Franz Mehring.


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[0037] Straßendemonstration in Berlin. Einer ihrer vorzüglichsten Organisatoren, im Uebrigen ein einfacher und unbekannter Arbeiter, August Heinsch, starb eines jähen Todes; noch in jungen Jahren raffte ihn ein Blutsturz dahin, viel¬ leicht, ja wahrscheinlich in Folge der übermäßigen Anstrengungen, denen er sich im Interesse der Partei unterzogen hatte. In solchen Arbeitern, wie diesem in keiner Beziehung irgend hervorragenden Setzer, der persönlich in jeder Be¬ ziehung höchst achtbar war, ehrlich und redlich sich von seiner Arbeit und nicht vom Schwatzen nährte, aber was ihm an Kraft übrig blieb, ganz und voll an die Sache setzte, welcher er sein Leben gewidmet hatte, liegt jene eigenthüm¬ liche Spannkraft, jene rastlose Energie, welche der sozialdemokratischen Propa¬ ganda unstreitig eigen ist. Gerade unter den intelligenten und strebsamen Schichten des Arbeiterstandes sind solche Gestalten nicht selten; träten sie mehr in den Vordergrund, so würde man eine anschaulichere und richtigere Vorstel¬ lung von der drohenden Gefahr gewinnen, als durch den Schwarm der jetzigen „Führer", denen gemeiniglich nur eine ungewöhnlich entwickelte Volubilität der Zunge an die Oberfläche geholfen hat. Die Partei ehrte die Verdienste des geschiedenen Genossen durch ein feierliches Begräbniß, wie es seit dem Leichen- begängniß der Märzkämpfer vor dreißig und Waldeck's vor acht Jahren in Berlin nicht wieder gesehen worden ist. Vielleicht zwölftausend Männer und tausend Frauen folgten in rangirter Reihe; dazu begleitete eine unabsehbare Menschenmenge den Zug. Es würde thöricht sein, diese Demonstration ver¬ kleinern zu wollen, um so thörichter, als augenblicklich vielleicht keine andere Partei in der deutschen Hauptstadt Aehnliches zu inszeniren vermöchte, allein noch weniger angezeigt ist ein bleicher Schrecken, als hätte in dem dumpfen Schritte jener Massen schon die nahende Revolution gegrollt. Bei einiger Ge- schicklichkeit und Rührigkeit lassen sich in einer industriellen Millionenstadt solche Aufzüge nicht gar zu schwer arrangiren, und wenn es vielleicht heute nur die Sozialdemokratie kann und keine andere Partei, so ist das für sie ein Kompliment und für ihre Gegner ein Tadel, aber es ist noch lange nicht das gefährlichste Symptome der ganzen Bewegung. Franz Mehring. Ärenzbvtcu II. 1L78.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/37>, abgerufen am 09.11.2024.