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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Eine Anzahl dieser Bedenken wird vielleicht schon im Schooße des Bundes¬
rathes erledigt.*)

Aber wenn die Verbesserungsvorschläge, welche die liberale Doktrin zu
diesen Punkten des Entwurfs einzubringen berechtigt und verpflichtet ist. An¬
nahme im Bundesrath finden -- und daran dürfte kaum zu zweifeln sein --
so ist nicht abzusehen, warum dieser Entwurf für die liberalen Fraktionen des
Reichstags "unannehmbar" sein sollte.

Vor allen hüte man sich vor dem Glauben, als ob man mit einer so banalen
Phrase wieder: daß man keine "Ausnahmegesetze" erlassen dürfe, irgend
etwas Vernünftiges sage! Als im Frühjahr des Jahres 1848 alle "Ausnahme¬
gesetze" abgeschafft wurden, wußte im eigentlichsten Sinne des Wortes kein
Mensch in Deutschland, was damit beschlossen war. Vier Jahre später suchte
ein so scharfer Kopf wie Zachariä im Interesse des nationalen Staatsrechtes
den Begriff festzustellen, ohne Erfolg. Der große Staatsrechtslehrer Albrecht
erklärte mir offen: "der Begriff lag damals <1848) in der Luft, jeder glaubte
ihn zu verstehen, aber konstruiren kann ihn niemand". Jedes wirksame, indi¬
viduell ausgeprägte Gesetz ist eigentlich ein Ausnahmegesetz oder auch keines.
Unsre unendlich vielgliedrige Staats-. Gesellschafts- und Rechtsordnung kann
sich unmöglich mit einem jener kindlichen Wunschzettel als Staatsgrundgesetz be¬
gnügen, mit welchem sogenannte ideale Republiken ihr Dasein beginnen.
"

Doch mag man über die Zulässigkeit von "Ausnahmegesetzen denken wie
man will, so viel ist gewiß: das Gesetz und namentlich jedes Verfassnngs-
gesetz können nur Diejenigen anrufen, die bereit sind, dem Gesetze und Gemein¬
wesen zu gehorchen. Wer sich außerhalb des Gesetzes, der gesellschaftlichen
Ordnung, der Nation stellt, darf sich nicht wundern und beklagen, wenn das
Gesetz und Volk, das der Frevler verhöhnt, alle Macht gegen ihn anwendet,
um ihn unschädlich zu macheu, eine weitere Auflehnung und Verhöhnung seiner¬
seits und ein weiteres Werben von Helfershelfern zu seinem Streben unmög¬
lich zu machen. Das ist einfach erlaubte Selbsthülfe und Nothwehr, die für
Staaten und Völker ebenso zweifellos besteht, wie für Individuen. Ein so
freier und humaner Geist wie Kant wollte das.jus tÄlioni" in das Strafrecht
einführen. Unser Zeitalter hält diesen Gedanken im Strafrecht für barbarisch
und unausführbar. Aber im Staatsrecht gilt er unbestritten nach außen und
innen. Niemand zweifelt, daß der Staat das Recht wie die Pflicht hat, die¬
jenigen mit all seinen Machtmitteln niederzuwerfen, welche seinem Recht, seiner
Ordnung, seinem nationale" Bestände entgegenstreben: denen die Wohlthat seiner
Gesetze entzieht, die sie antasten. Die Sozialdemokratie ist in diesem Falle.
Früher suchte sie das zu leugnen. Heute fühlt sie sich stark genng, selbst im deutschen
Reichstage offen mit der Revolution zu drohen, wenn man nicht die Verge¬
waltigung der ganzen Nation. Gesellschaft und Kultur unserer Zeit nach ihrer
Vorschrift im Wege der "Reform" freiwillig vollziehen will.

Diese eine Thatsache in Verbindung mit dem steten Überhandnehmen
der socialistischen Frevel aller Art genügt in unsern Angen -- und bietet einen weit
Passenderen Anlaß, als das Attentat Hödel's -- um die Frage nach der Rechtzeitig¬
eres Gesetzentwurfs von der Art des vorliegenden zu bejahen. Unsere be¬
stehenden Gesetze mögen auf dem Papier genügen, um die schlimmsten Aus¬
schreitungen der Socialdemokratie zu ahnden; in der Praxis aber haben sie
ein starkes Anwachsen dieser Ausschreitungen zugelassen, und ein so entschiede-



°) Das ist geschehen. Z 6 ist gefallen, § 1 modifizirt, aber noch nicht ausreichend.

Eine Anzahl dieser Bedenken wird vielleicht schon im Schooße des Bundes¬
rathes erledigt.*)

Aber wenn die Verbesserungsvorschläge, welche die liberale Doktrin zu
diesen Punkten des Entwurfs einzubringen berechtigt und verpflichtet ist. An¬
nahme im Bundesrath finden — und daran dürfte kaum zu zweifeln sein —
so ist nicht abzusehen, warum dieser Entwurf für die liberalen Fraktionen des
Reichstags „unannehmbar" sein sollte.

Vor allen hüte man sich vor dem Glauben, als ob man mit einer so banalen
Phrase wieder: daß man keine „Ausnahmegesetze" erlassen dürfe, irgend
etwas Vernünftiges sage! Als im Frühjahr des Jahres 1848 alle „Ausnahme¬
gesetze" abgeschafft wurden, wußte im eigentlichsten Sinne des Wortes kein
Mensch in Deutschland, was damit beschlossen war. Vier Jahre später suchte
ein so scharfer Kopf wie Zachariä im Interesse des nationalen Staatsrechtes
den Begriff festzustellen, ohne Erfolg. Der große Staatsrechtslehrer Albrecht
erklärte mir offen: „der Begriff lag damals <1848) in der Luft, jeder glaubte
ihn zu verstehen, aber konstruiren kann ihn niemand". Jedes wirksame, indi¬
viduell ausgeprägte Gesetz ist eigentlich ein Ausnahmegesetz oder auch keines.
Unsre unendlich vielgliedrige Staats-. Gesellschafts- und Rechtsordnung kann
sich unmöglich mit einem jener kindlichen Wunschzettel als Staatsgrundgesetz be¬
gnügen, mit welchem sogenannte ideale Republiken ihr Dasein beginnen.
"

Doch mag man über die Zulässigkeit von „Ausnahmegesetzen denken wie
man will, so viel ist gewiß: das Gesetz und namentlich jedes Verfassnngs-
gesetz können nur Diejenigen anrufen, die bereit sind, dem Gesetze und Gemein¬
wesen zu gehorchen. Wer sich außerhalb des Gesetzes, der gesellschaftlichen
Ordnung, der Nation stellt, darf sich nicht wundern und beklagen, wenn das
Gesetz und Volk, das der Frevler verhöhnt, alle Macht gegen ihn anwendet,
um ihn unschädlich zu macheu, eine weitere Auflehnung und Verhöhnung seiner¬
seits und ein weiteres Werben von Helfershelfern zu seinem Streben unmög¬
lich zu machen. Das ist einfach erlaubte Selbsthülfe und Nothwehr, die für
Staaten und Völker ebenso zweifellos besteht, wie für Individuen. Ein so
freier und humaner Geist wie Kant wollte das.jus tÄlioni« in das Strafrecht
einführen. Unser Zeitalter hält diesen Gedanken im Strafrecht für barbarisch
und unausführbar. Aber im Staatsrecht gilt er unbestritten nach außen und
innen. Niemand zweifelt, daß der Staat das Recht wie die Pflicht hat, die¬
jenigen mit all seinen Machtmitteln niederzuwerfen, welche seinem Recht, seiner
Ordnung, seinem nationale» Bestände entgegenstreben: denen die Wohlthat seiner
Gesetze entzieht, die sie antasten. Die Sozialdemokratie ist in diesem Falle.
Früher suchte sie das zu leugnen. Heute fühlt sie sich stark genng, selbst im deutschen
Reichstage offen mit der Revolution zu drohen, wenn man nicht die Verge¬
waltigung der ganzen Nation. Gesellschaft und Kultur unserer Zeit nach ihrer
Vorschrift im Wege der „Reform" freiwillig vollziehen will.

Diese eine Thatsache in Verbindung mit dem steten Überhandnehmen
der socialistischen Frevel aller Art genügt in unsern Angen — und bietet einen weit
Passenderen Anlaß, als das Attentat Hödel's — um die Frage nach der Rechtzeitig¬
eres Gesetzentwurfs von der Art des vorliegenden zu bejahen. Unsere be¬
stehenden Gesetze mögen auf dem Papier genügen, um die schlimmsten Aus¬
schreitungen der Socialdemokratie zu ahnden; in der Praxis aber haben sie
ein starkes Anwachsen dieser Ausschreitungen zugelassen, und ein so entschiede-



°) Das ist geschehen. Z 6 ist gefallen, § 1 modifizirt, aber noch nicht ausreichend.
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[0363] Eine Anzahl dieser Bedenken wird vielleicht schon im Schooße des Bundes¬ rathes erledigt.*) Aber wenn die Verbesserungsvorschläge, welche die liberale Doktrin zu diesen Punkten des Entwurfs einzubringen berechtigt und verpflichtet ist. An¬ nahme im Bundesrath finden — und daran dürfte kaum zu zweifeln sein — so ist nicht abzusehen, warum dieser Entwurf für die liberalen Fraktionen des Reichstags „unannehmbar" sein sollte. Vor allen hüte man sich vor dem Glauben, als ob man mit einer so banalen Phrase wieder: daß man keine „Ausnahmegesetze" erlassen dürfe, irgend etwas Vernünftiges sage! Als im Frühjahr des Jahres 1848 alle „Ausnahme¬ gesetze" abgeschafft wurden, wußte im eigentlichsten Sinne des Wortes kein Mensch in Deutschland, was damit beschlossen war. Vier Jahre später suchte ein so scharfer Kopf wie Zachariä im Interesse des nationalen Staatsrechtes den Begriff festzustellen, ohne Erfolg. Der große Staatsrechtslehrer Albrecht erklärte mir offen: „der Begriff lag damals <1848) in der Luft, jeder glaubte ihn zu verstehen, aber konstruiren kann ihn niemand". Jedes wirksame, indi¬ viduell ausgeprägte Gesetz ist eigentlich ein Ausnahmegesetz oder auch keines. Unsre unendlich vielgliedrige Staats-. Gesellschafts- und Rechtsordnung kann sich unmöglich mit einem jener kindlichen Wunschzettel als Staatsgrundgesetz be¬ gnügen, mit welchem sogenannte ideale Republiken ihr Dasein beginnen. " Doch mag man über die Zulässigkeit von „Ausnahmegesetzen denken wie man will, so viel ist gewiß: das Gesetz und namentlich jedes Verfassnngs- gesetz können nur Diejenigen anrufen, die bereit sind, dem Gesetze und Gemein¬ wesen zu gehorchen. Wer sich außerhalb des Gesetzes, der gesellschaftlichen Ordnung, der Nation stellt, darf sich nicht wundern und beklagen, wenn das Gesetz und Volk, das der Frevler verhöhnt, alle Macht gegen ihn anwendet, um ihn unschädlich zu macheu, eine weitere Auflehnung und Verhöhnung seiner¬ seits und ein weiteres Werben von Helfershelfern zu seinem Streben unmög¬ lich zu machen. Das ist einfach erlaubte Selbsthülfe und Nothwehr, die für Staaten und Völker ebenso zweifellos besteht, wie für Individuen. Ein so freier und humaner Geist wie Kant wollte das.jus tÄlioni« in das Strafrecht einführen. Unser Zeitalter hält diesen Gedanken im Strafrecht für barbarisch und unausführbar. Aber im Staatsrecht gilt er unbestritten nach außen und innen. Niemand zweifelt, daß der Staat das Recht wie die Pflicht hat, die¬ jenigen mit all seinen Machtmitteln niederzuwerfen, welche seinem Recht, seiner Ordnung, seinem nationale» Bestände entgegenstreben: denen die Wohlthat seiner Gesetze entzieht, die sie antasten. Die Sozialdemokratie ist in diesem Falle. Früher suchte sie das zu leugnen. Heute fühlt sie sich stark genng, selbst im deutschen Reichstage offen mit der Revolution zu drohen, wenn man nicht die Verge¬ waltigung der ganzen Nation. Gesellschaft und Kultur unserer Zeit nach ihrer Vorschrift im Wege der „Reform" freiwillig vollziehen will. Diese eine Thatsache in Verbindung mit dem steten Überhandnehmen der socialistischen Frevel aller Art genügt in unsern Angen — und bietet einen weit Passenderen Anlaß, als das Attentat Hödel's — um die Frage nach der Rechtzeitig¬ eres Gesetzentwurfs von der Art des vorliegenden zu bejahen. Unsere be¬ stehenden Gesetze mögen auf dem Papier genügen, um die schlimmsten Aus¬ schreitungen der Socialdemokratie zu ahnden; in der Praxis aber haben sie ein starkes Anwachsen dieser Ausschreitungen zugelassen, und ein so entschiede- °) Das ist geschehen. Z 6 ist gefallen, § 1 modifizirt, aber noch nicht ausreichend.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/363>, abgerufen am 09.11.2024.