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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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noch mehr an der echten poetischen Empfindung des Verfassers. Es ist die
Szene, in der Julie, nachdem ihr ihre Neigung zu Emanuel völlig klar ge¬
worden und sie dem Grafen Delaiti diese Neigung sogar bereits stillschweigend
zugestanden, dennoch den unglücklichen edeln jungen Mann, der bis dahin aller
Opfer sich fähig gezeigt hat, und ihr durchaus nicht als Sieger, sondern nur
beseligt durch den ersten Strahl wirklicher glaubhafter Hoffnung nach langer
Trennung entgegentritt, in so schroffer Weise abweist. Wohl ist die Julia
Barrili's ein hochgesinntes, freiheitsstolzes Weib, die ihre Liebe zu Emanuel
argwöhnisch und beinahe feindselig beobachtet, weil sie in ihr ahnt die Ver¬
kümmerung der vollen Freiheit ihres Handelns und ihrer Stellung. Unmög¬
lich ist es nicht, daß eine solche Frau so handelt in dem kritischen Augenblick,
wie der Dichter sie handeln läßt. Aber dennoch wird jeden Leser, zumeist
aber jede Leserin, diese Szene peinlich berühren. Die Selbstsucht der Herzogin
tritt hier so grell hervor, erzeugt eine so schreiende Dissonanz, daß keiner der
nachfolgenden harmonischen Accorde uns völlig aussöhnt mit diesem tiefen
Mißklang. --

Der letzte Band der Sammlung, der bis jetzt uns vorliegt (der fünfte),
enthält kleine Novellen von verschiedenen Autoren. Den Reigen eröffnet
Edmondo de Amicis, den seine Soldatengeschichten "Lo^seti militari"
(Florenz, 1869) in Italien rasch populär gemacht haben. In jedem Volke, das
aus der Zerrissenheit der dynastischen Kleinstaaterei in das gesunde kraftvolle
Leben eines Nationalstaates übergeht, finden sich Dichter, die begeistert das
Lob jenes Wehrstcmdes singen, der meist die größten Opfer bringen muß, damit
die ganze Nation die Früchte ihrer Einheitsbestrebungen ernte. Diese Dichter
zeichnen dem Volke schön und sinnig, was es bedeutet, wenn das
Berufsheer zum Volksheer geworden. Wir Deutschen haben ganz in derselben
Zeit wie Italien (seit 1866) dieselbe Wandlung durchgemacht; auch wir haben
unsere Soldatengeschichtenerzähler. Die LvWstti, Militari Edmondo de Amicis
werden daher auch bei uns gewiß ihr aufmerksames Publikum finden. Selten
wird rührender und schöner die ideale Seite des Waffendienstes für die Nation
auf wenigen Seiten geschildert werden können, als in dem kleinen Charakter¬
bild "Ein Blumenstrauß", den dieser Band als die zweite Erzählung bietet.
Und dennoch wird der tiefe Eindruck dieser Skizze noch übertroffen von der
ersten Erzählung "Carmela". Hier erleben wir den gewaltigen Fortschritt, den
die nationale Entwickelung von dein abgeschiedenen Garnisonsdienst des Berufs¬
soldaten zu der bewußten, Alle umfassenden Pflichterfüllung des Volkes in Waffen
gethan hat, gleichsam an einem Einzelbild aus dem täglichen Leben durch.

Der Commandant einer weltfernen Garnison, auf einer Insel des mittel¬
ländischen Meeres bei Sicilien, wo es gilt drei bis vierhundert Deportirte zu


noch mehr an der echten poetischen Empfindung des Verfassers. Es ist die
Szene, in der Julie, nachdem ihr ihre Neigung zu Emanuel völlig klar ge¬
worden und sie dem Grafen Delaiti diese Neigung sogar bereits stillschweigend
zugestanden, dennoch den unglücklichen edeln jungen Mann, der bis dahin aller
Opfer sich fähig gezeigt hat, und ihr durchaus nicht als Sieger, sondern nur
beseligt durch den ersten Strahl wirklicher glaubhafter Hoffnung nach langer
Trennung entgegentritt, in so schroffer Weise abweist. Wohl ist die Julia
Barrili's ein hochgesinntes, freiheitsstolzes Weib, die ihre Liebe zu Emanuel
argwöhnisch und beinahe feindselig beobachtet, weil sie in ihr ahnt die Ver¬
kümmerung der vollen Freiheit ihres Handelns und ihrer Stellung. Unmög¬
lich ist es nicht, daß eine solche Frau so handelt in dem kritischen Augenblick,
wie der Dichter sie handeln läßt. Aber dennoch wird jeden Leser, zumeist
aber jede Leserin, diese Szene peinlich berühren. Die Selbstsucht der Herzogin
tritt hier so grell hervor, erzeugt eine so schreiende Dissonanz, daß keiner der
nachfolgenden harmonischen Accorde uns völlig aussöhnt mit diesem tiefen
Mißklang. —

Der letzte Band der Sammlung, der bis jetzt uns vorliegt (der fünfte),
enthält kleine Novellen von verschiedenen Autoren. Den Reigen eröffnet
Edmondo de Amicis, den seine Soldatengeschichten „Lo^seti militari"
(Florenz, 1869) in Italien rasch populär gemacht haben. In jedem Volke, das
aus der Zerrissenheit der dynastischen Kleinstaaterei in das gesunde kraftvolle
Leben eines Nationalstaates übergeht, finden sich Dichter, die begeistert das
Lob jenes Wehrstcmdes singen, der meist die größten Opfer bringen muß, damit
die ganze Nation die Früchte ihrer Einheitsbestrebungen ernte. Diese Dichter
zeichnen dem Volke schön und sinnig, was es bedeutet, wenn das
Berufsheer zum Volksheer geworden. Wir Deutschen haben ganz in derselben
Zeit wie Italien (seit 1866) dieselbe Wandlung durchgemacht; auch wir haben
unsere Soldatengeschichtenerzähler. Die LvWstti, Militari Edmondo de Amicis
werden daher auch bei uns gewiß ihr aufmerksames Publikum finden. Selten
wird rührender und schöner die ideale Seite des Waffendienstes für die Nation
auf wenigen Seiten geschildert werden können, als in dem kleinen Charakter¬
bild „Ein Blumenstrauß", den dieser Band als die zweite Erzählung bietet.
Und dennoch wird der tiefe Eindruck dieser Skizze noch übertroffen von der
ersten Erzählung „Carmela". Hier erleben wir den gewaltigen Fortschritt, den
die nationale Entwickelung von dein abgeschiedenen Garnisonsdienst des Berufs¬
soldaten zu der bewußten, Alle umfassenden Pflichterfüllung des Volkes in Waffen
gethan hat, gleichsam an einem Einzelbild aus dem täglichen Leben durch.

Der Commandant einer weltfernen Garnison, auf einer Insel des mittel¬
ländischen Meeres bei Sicilien, wo es gilt drei bis vierhundert Deportirte zu


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[0354] noch mehr an der echten poetischen Empfindung des Verfassers. Es ist die Szene, in der Julie, nachdem ihr ihre Neigung zu Emanuel völlig klar ge¬ worden und sie dem Grafen Delaiti diese Neigung sogar bereits stillschweigend zugestanden, dennoch den unglücklichen edeln jungen Mann, der bis dahin aller Opfer sich fähig gezeigt hat, und ihr durchaus nicht als Sieger, sondern nur beseligt durch den ersten Strahl wirklicher glaubhafter Hoffnung nach langer Trennung entgegentritt, in so schroffer Weise abweist. Wohl ist die Julia Barrili's ein hochgesinntes, freiheitsstolzes Weib, die ihre Liebe zu Emanuel argwöhnisch und beinahe feindselig beobachtet, weil sie in ihr ahnt die Ver¬ kümmerung der vollen Freiheit ihres Handelns und ihrer Stellung. Unmög¬ lich ist es nicht, daß eine solche Frau so handelt in dem kritischen Augenblick, wie der Dichter sie handeln läßt. Aber dennoch wird jeden Leser, zumeist aber jede Leserin, diese Szene peinlich berühren. Die Selbstsucht der Herzogin tritt hier so grell hervor, erzeugt eine so schreiende Dissonanz, daß keiner der nachfolgenden harmonischen Accorde uns völlig aussöhnt mit diesem tiefen Mißklang. — Der letzte Band der Sammlung, der bis jetzt uns vorliegt (der fünfte), enthält kleine Novellen von verschiedenen Autoren. Den Reigen eröffnet Edmondo de Amicis, den seine Soldatengeschichten „Lo^seti militari" (Florenz, 1869) in Italien rasch populär gemacht haben. In jedem Volke, das aus der Zerrissenheit der dynastischen Kleinstaaterei in das gesunde kraftvolle Leben eines Nationalstaates übergeht, finden sich Dichter, die begeistert das Lob jenes Wehrstcmdes singen, der meist die größten Opfer bringen muß, damit die ganze Nation die Früchte ihrer Einheitsbestrebungen ernte. Diese Dichter zeichnen dem Volke schön und sinnig, was es bedeutet, wenn das Berufsheer zum Volksheer geworden. Wir Deutschen haben ganz in derselben Zeit wie Italien (seit 1866) dieselbe Wandlung durchgemacht; auch wir haben unsere Soldatengeschichtenerzähler. Die LvWstti, Militari Edmondo de Amicis werden daher auch bei uns gewiß ihr aufmerksames Publikum finden. Selten wird rührender und schöner die ideale Seite des Waffendienstes für die Nation auf wenigen Seiten geschildert werden können, als in dem kleinen Charakter¬ bild „Ein Blumenstrauß", den dieser Band als die zweite Erzählung bietet. Und dennoch wird der tiefe Eindruck dieser Skizze noch übertroffen von der ersten Erzählung „Carmela". Hier erleben wir den gewaltigen Fortschritt, den die nationale Entwickelung von dein abgeschiedenen Garnisonsdienst des Berufs¬ soldaten zu der bewußten, Alle umfassenden Pflichterfüllung des Volkes in Waffen gethan hat, gleichsam an einem Einzelbild aus dem täglichen Leben durch. Der Commandant einer weltfernen Garnison, auf einer Insel des mittel¬ ländischen Meeres bei Sicilien, wo es gilt drei bis vierhundert Deportirte zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/354>, abgerufen am 27.07.2024.